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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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noch gut
neunzig Meter. Wir werden uns gleich sanft abstoßen und schräg auf die Wand der
Röhre zutrudeln. Wir brauchen eine lange Flugstrecke, um Geschwindigkeit zu
verlieren. Also schieß bloß nicht direkt auf die Wand zu, sonst bist du beim
Aufprall platt wie Toastbrot.“
    Caravan verbiss sich die
Bemerkung, dass sein Aufprall eher die Stahlwand eindellen würde. In
seinem Genpool befand sich eine Körperpanzerung, die es spielend aushielt, von
einem Militär-Shuttle gerammt zu werden. Gehorsam folgte er Randoris Flugbahn,
und gemeinsam glitten sie aus dem Verkehrsstrom hinaus. Sie trieben etwa
siebzig Meter durch die Luft, dann landeten sie sanft. Das letzte Stück des
Weges zogen sie sich an den Haltegriffen der Wand entlang und kletterten in die
Kammer.
    Innerhalb der Schleuse war der
Fußboden mit leuchtendroten Schuhabdrücken markiert. Caravan stellte fest, dass
sie sich in Wahrheit an der Zimmerdecke befanden und beim Einsetzen der
Schwerkraft eine kräftige Bauchlandung riskiert hätten. Er drehte sich herum,
bis er neben Randori kopfüber auf der markierten Wandfläche stand, dann
schaltete sie mit einem Strombefehl die Gravitation wieder ein. Die Welt schien
sich umzukehren, die Außentür sprang auf. Caravan schaute durch die Öffnung,
die wie das Portal zu einer fremden Welt wirkte. Hinter der Tür lag das grelle,
bunte Leben von 61.2 Lindgren.
    Er trat hinaus und stand in einer
mittelalterlichen Marktgasse. Menschen in altertümlichen Gewändern strömten an
ihm vorbei. Bäuerische Tanzmusik und die Rufe der Marktschreier echoten von den
Wänden zurück. Die Kostümierungen reichten von Landsknechten in authentischer
Lederkluft bis zu märchenhaft aufgeputzten Prinzen in purpurner Seide. Der Raumschiffkorridor
wurde von Ständen gesäumt, die allerlei Designerware anboten. Wenn man sich aus
der Realität herausblinzelte, hatte man zusätzlich Kopfsteinpflaster unter den
Füßen, kräftige Gerüche strömten einem von allen Seiten entgegen, und in der
Ferne erhob sich die Silhouette einer Stadt mit zinnenbesetzten Türmen.
    „Ich habe nachgedacht“, sagte
Caravan unvermittelt.
    „Hm, worüber?“ Randori wandte sich
von der Speisekarte eines Küchenstandes ab, dessen Recycler einen ‘hoechst
feynen Kapaun mit Kraeutern des Frankenreyches’ bot.
    „Serail war vor allem schockiert,
dass ich Caravans Körper benutze. Wenn ich ihm als eine fremde Person mit einem
neuen Gesicht begegne, wird er mir vielleicht zuhören.“
    „Himmel, ich dachte wirklich, ich
hätte dich auf andere Gedanken gebracht. Aber könntest du vielleicht etwas
leiser reden?“, brummte Randori ihm ins Ohr. „Es muss ja nicht jeder wissen,
dass ich mich in Begleitung eines außerirdischen Körperdiebes befinde.“
    „Vielen Dank, jetzt fühle ich mich
viel besser“, knurrte Caravan zurück.
    Randori nahm ihn am Arm und zog
ihn in eine Ecke zwischen zwei Ständen, wo niemand auf Hörweite herankam.
„Okay, besprechen wir das. Es stimmt, ich fände es auch einfacher, wenn du wie
ein Fremder aussehen würdest. So muss ich mich ständig erinnern, dass du nicht
bist, wer du zu sein scheinst.“
    „Aber ich bin Caravan“
protestierte er. „Du redest davon, als würde ich dir etwas vorspielen. Das ist
nicht der Fall!“
    Randori seufzte und lehnte sich
gegen die Bretterwand in ihrem Rücken. „Du bist ein fremdes Wesen, das seine
Persönlichkeiten wechselt wie andere Leute ihre Schuhe. Im Moment bist du
Caravan, zu anderen Zeiten bist du Bladerunner oder Passat ... “ Sie sah seinen
verständnislosen Blick und sagte: „Ich merke schon, das wird ein längeres
Gespräch. Also: Die Identität eines Menschen ist etwas Einmaliges. Caravan war
nur Caravan und niemand sonst. Er wurde geboren, er hat gelebt, er ist
gestorben als Caravan. Du könntest ihn in jeder Einzelheit kopieren, aber du
würdest trotzdem nie Caravan sein – denn es gab ihn nur einmal, und er
ist tot. Die Identität, die Seele eines Menschen ist einzigartig und auf
ewig unveränderlich dieselbe.“
    Er runzelte die Stirn. „In meiner
Weltsicht gibt es nichts, das ‘unveränderlich’ ist. Alles ist ständig im
Wandel. Du glaubst, wenn ich nicht eine einzige, immergleiche Person bin,
besitze ich keine Seele?“
    „Nein“, protestierte Randori
hastig. „Das wollte ich bestimmt nicht sagen. Ich meine nur, dass ich deine
Psyche nicht verstehe. Ich stelle mir vor, man würde mich in eine Maschine
stecken, um meine Persönlichkeit auszulöschen und sie durch

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