Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
konturlosen Maske. Übrig blieben nur die
freundlichen blauen Augen, die ihm noch immer aus dem Spiegel
entgegenstrahlten: Er wollte Caravan nicht ganz verlieren. Dann baute er ein
zartes weibliches Gesicht auf, das eine leichte Stupsnase und einen energischen
Zug um den Mund besaß. Die Haare der Frau waren tiefschwarz und bildeten einen attraktiven
Kontrast zu seinen blauen Augen. Die Naturlocken entfernte er, ließ sich einen
kurzen Pagenschnitt wachsen und gab zu guter Letzt den Brauen einen kühnen
männlichen Schwung. Die Mischung aus Caravan und Camelot-Frau gefiel ihm
ausgezeichnet, und er dachte amüsiert, dass er auf seine alten Tage eitel
wurde. Bis zu seiner Begegnung mit den Menschen – die selbstverliebt genug
waren, um Spiegel zu erfinden – waren seine Körper vor allem praktisch gewesen.
Er sah an sich herunter,
korrigierte die weiblichen Konturen und gab der zierlichen Gestalt eine eher
knabenhaft graziöse Form. Dann bemalte er die Haut mit Seidenunterwäsche und
benutzte einige Gene des Weißen Schleierfedrig, um die Frau mit einem
schlichten Kleid zu umspinnen. Damit das Gewand einen mittelalterlichen
Anstrich bekam, verbrämte er es mit Polarblumen-Pelz und legte sich einen Ledergürtel
um die Taille. Er fügte noch ein wenig Schmuck hinzu, erschuf aus farbigem
Korallenstein Ringe und Armreifen, wie weibliche Camelot sie trugen. Mit einer
kurzen Schrittfolge stellte er fest, dass ihm die tänzerische Leichtigkeit
ihrer Bewegungen geblieben war. Sollte er Teile ihrer Persönlichkeit übernehmen?
Wenn er ihre Genmuster betrachtete, konnte er erkennen, dass das weibliche
Gehirn anders aufgebaut war als das männliche, und dieser Unterschied reizte
ihn sehr. Aber er dachte daran, wie viel Wert Randori auf ein gleichbleibendes
Ich legte, und entschied sich, dass er ihr einen solchen Charakterbruch nicht
zumuten wollte. Vielleicht konnte er es später wagen, wenn sie ihm wieder mehr
vertraute.
Während er durch die Marktstraße
zurückging, überlegte er, wie trügerisch der Glaube an eine unveränderliche
Identität war, dem die Menschen offenbar anhingen. Was hatte Randori mit ihren
jüngeren Ichs zu tun, dem fünfmonatigen Baby, dessen Gehirn mitten im Aufbau
war, dem pubertierenden Mädchen, dessen gesamter Hormonhaushalt sich
umorganisierte? Sie besaß nicht mehr dieselbe Psyche und auch nicht mehr
denselben Körper: die damaligen Zellen waren längst abgestorben und
schrittweise durch neue ersetzt worden. Randori fühlte sich nur deshalb als
zusammenhängende Persönlichkeit, weil ihre verschiedenen Lebensphasen durch
Erinnerungen zusammengehalten wurden. Aber im Gedächtnis der Menschen war so
vieles brüchig und verfälscht; auch dieser Teil ihrer Identität war kaum mehr
als eine Illusion. Er verstand den Kult nicht, den die Menschen um ihr Ich
betrieben.
Er bog um die Ecke des Standes,
ging auf Randori zu und erntete einen fragenden Blick.
„Ja bitte, suchen Sie jeman ...
Caravan??“
„Wen hast du denn erwartet“,
neckte er mit weicher Sopranstimme.
„Himmel, das ist ja unglaublich!
Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dein Geschlecht ändern würdest. Äh,
warte einen Moment, ich habe eine Idee.“ Sie verschwand um die Ecke.
Caravan blieb gehorsam hinter der
Bretterwand stehen, bis sie einige Minuten später mit einem Trinkhorn voller
Wasser wieder auftauchte.
„Zu einer neuen Person gehört auch
ein neuer Name. Wir werden jetzt eine Taufe improvisieren. Lass mich einen
Moment überlegen, wie wir dich nennen können.“
Caravan schaute auf das Wasser in
ihrer Hand. „Ich dachte, das tut man nur bei einer Heirat.“
„Tja, bisher haben wir keine
spezielle Zeremonie für Körpertausch“, meinte sie trocken. „Aber ich kann dich
schlecht weiterhin Caravan nennen. Das wäre einfach unpassend.“ Nachdem sie
eine Weile grübelnd ins Leere geschaut hatte, hob sie den Schleier und tupfte
sich einen Wassertropfen auf die Stirn. Dann trank sie das Gefäß zur Hälfte
leer. Mit amtlicher Stimme verkündete sie: „Als Patin und offizielle
Vertreterin der Regierung taufe ich dich, die Angetraute von Crewman Serail,
hiermit auf einen neuen Ehe-Namen und nenne dich Dschinn.“
Sie reichte ihm das Trinkhorn,
aber Caravan zögerte, es anzunehmen. „Welche Bedeutung hat der Name?“
„Das Wort ist orientalisch und
passt damit zu ‘Serail’“, erklärte Randori. „Ein Dschinn ist ein Geist in
Menschengestalt, der sich in jede beliebige Form verwandeln kann, genau wie
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