Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
zu entspannen,
was ihm trotz der Fesseln ganz gut gelang. Dadurch meldete sich jedoch ein
bisher unterdrücktes Bedürfnis. Serail räusperte sich verlegen. „Ich brauche
eine Toilette“, teilte er der Schamanin mit.
Sie stand auf und ging ohne ein
Wort zum Recycler, holte eine leere Plastikflasche heraus und stülpte sie ihm
über den Schwanz. Dann rollte sie seinen Körper in eine Seitenlage, damit
nichts überlief. Serail hatte sich selten so gedemütigt gefühlt. Die Frau schien
nichts Ungewöhnliches dabei zu finden, sie machte das vermutlich ständig. Die
anderen Leute in der Halle waren genauso hilflos wie er selbst, in der Trance
gefangen, und sie war nur deshalb wach geblieben, um sich um ihre
Körperfunktionen zu kümmern. Also kein Grund für falsche Scham, redete er sich
ein und stellte sich vor, an einem einsamen, rauschenden Wasserfall zu stehen.
Nach einer Weile funktionierte es.
Die Schamanin nahm ihm die Flasche
ab und ließ sie wieder im Recycler verschwinden. „Warum blinzelst du dich nicht
eine Weile fort? Niemand hat etwas davon, wenn du dich unnötig quälst. Die
Stromvisionen in der Gildehalle sind wunderschön.“
Serail musste zugeben, dass der
Vorschlag verlockend war. Je länger er darüber nachdachte, desto unwiderstehlicher
wurde der Strom. Natürlich lieferte er sich damit vollkommen aus, seine Entführer
konnten alles Mögliche mit ihm anstellen, und er würde es nicht merken.
Vielleicht sprühten sie ihm eine Wahrheitsdroge, oder ihm entging eine
Fluchtmöglichkeit ... Es spielte keine Rolle, entschied Serail. Sie hatten ihn
sowieso in der Hand. Sie konnten ihn mit Chloroform betäuben, wenn sie ihn
hilflos haben wollten. Oder sie warteten einfach, bis er vor Übermüdung
einschlief. Genauso gut konnte er sein Bewusstsein freiwillig abschalten. – Mit
dieser beruhigenden Selbstrechtfertigung ließ Serail sich in den Strom fallen.
Die Kabine verschwand.
Das erste, was er auf der anderen
Seite bemerkte, war die klare kalte Luft, die sein Gehirn durchfegte und alle
Verwirrung und Angst aus ihm heraus zu blasen schien. Serail atmete tief ein
und fühlte, wie der Wind seine Haare zu Flattern brachte. Ein grandioses,
schneebedecktes Gebirgspanorama breitete sich vor seinen Augen aus. Serail
stand ganz oben auf einem Felsgipfel, und der Himmel wölbte sich kristallblau
in die Unendlichkeit. Die Frühlingssonne brachte das umliegende Weiß zum
Leuchten. Hinter ihm waren Stiefelspuren im Schnee, so als sei er gerade erst
heraufgestiegen. Er beschloss, den Fußstapfen zurück zu folgen und sich mit
einer tüchtigen Wanderung von seiner misslichen Lage abzulenken. Schon jetzt
spürte er, wie der Friede der Umgebung in ihn einsank und die grässliche
Wirklichkeit in seiner Erinnerung verblasste. Die Stromvisionen der Schamanen
waren eine starke Droge, stellte er zufrieden fest. Ihr Einfluss auf das Gehirn
war fast so wirkungsvoll wie seine Illusionisten-Programme. Er warf einen
letzten Rundumblick auf die atemberaubende Bergwelt, dann machte er sich an den
Abstieg.
Neun Stunden später marschierte er
immer noch mit gleicher Energie und gleichem Vergnügen. Im Strom wurde man
nicht müde, wenn man es nicht wollte. Er überquerte mit Nagelschuhen einen
weitgestreckten Gletscher, wanderte zwischen einem Labyrinth von Spalten
hindurch, tintenblauen Rissen im ewigen Weiß. Der Weg wurde abschüssig. Serail
hatte die Ausläufer des Eises erreicht. Ein steiler Abstieg lag vor ihm, und er
suchte mit den Augen den besten Pfad durch das Geröll der Endmoräne. Gerade
wollte er mit dem rechten Fuß eine natürliche Stufe betreten, als ein scharfer
Schmerz durch sein Knie schoss. Er knickte ein, verlor den Halt und rollte den
Abhang hinunter, während Eissplitter und Felsbrocken sich in sein Fleisch
bohrten. Es fühlte sich an, als würde ihn jemand windelweich schlagen.
Abrupt wurde Serail klar, dass
genau das geschah.
… sein Sturz hatte eine
Gerölllawine ausgelöst, Steine prasselten auf ihn herab …
Der Strom sah keine Unfälle vor, der
Schmerz musste von außen kommen.
… er stürzte durch einen Dornenbusch,
Zweige schlugen in sein Gesicht …
Jemand nahm ihn mit fachkundigem Sadismus
auseinander. Er musste sofort in die Realität zurückkehren, sonst würde er hier
als zerfledderte Gletscherleiche enden.
Der Gedanke, sich einer
unbekannten, brutalen Wirklichkeit zu stellen, gefiel Serail überhaupt nicht,
aber er biss die Zähne zusammen und blinzelte.
Eine Gestalt beugte sich über
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