Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
auf das Wesentliche. Er musste hier
raus.
Serail blinzelte und versuchte
einen Hilferuf durch den Strom zu schicken, doch die Leitung nach draußen war
von einer wattigen Barriere versperrt. Wahrscheinlich wollten sich die Eremiten
nicht durch die Außenwelt ablenken lassen und hatten ihre Kabinenhöhle
sorgfältig isoliert. Kein Wunder, dass man ihn ausgerechnet hier gefangen
hielt.
Andererseits war es vielleicht ein
Glücksfall. Alle Schamanen um ihn herum befanden sich in so tiefer Trance, dass
sie einen Fluchtversuch gar nicht bemerken würden. Er musste nur seine Fesseln
loswerden. Serail hielt nach einem scharfen Gegenstand Ausschau. Das war nicht
einfach, denn die Riemen waren so professionell angelegt, dass er sich kaum
rühren konnte. Mühsam rollte er sich vom Rücken auf die rechte Seite, um auch
diesen Teil des Raums zu mustern. Was er sah, machte all seine Hoffnungen
zunichte. Auf dem Boden schräg hinter ihm saß eine Schamanin und schaute ihn
mit wachen Augen an. Natürlich. Eine von ihnen war immer wach und kümmerte sich
um die körperlichen Bedürfnisse der Trance-Reisenden.
Als sie sah, dass er sie bemerkt
hatte, stand sie auf. Sie trat näher, und Serail ließ sich wieder auf den
Rücken fallen. Er starrte die Frau furchtsam an. Sie war das Unheimlichste, was
er bis jetzt in der Schamanenhöhle gesehen hatte. Ihr Gesicht zwischen dem
weißen, zu langen Zöpfen geflochtenem Haar war mit einem Muster tiefer Risse
bedeckt, als hätte man ihr Gabelzinken durch das Fleisch gezogen. Die Haut sah
aus wie dünnes, gekräuseltes Reispapier. Jede Bewegung der Frau erschien
schmerzhaft und schwerfällig. „Sind Sie krank?“, fragte Serail unwillkürlich.
Sie lächelte. Ihre Augen waren die
einer Antique, von erschreckender Tiefe. „Ich bin nur alt“, erklärte sie.
„So sieht man nicht aus, weil man
alt ist“, protestierte Serail. Vielleicht hatte sie etwas Ansteckendes. Ihm wurde
ganz schlecht bei dem Gedanken, dass sich sein perfekter Körper in eine ähnlich
gespenstische Hülle verwandeln könnte.
„Ich bin achtundneunzig Jahre und
werde bald sterben. Ich habe mich entschieden, meinen Körper auf natürliche
Weise altern zu lassen, mein Leben nicht künstlich zu verlängern ... Das ist
kein Grund, so schockiert auszusehen.“
Serail wandte den Kopf ab. Er
wollte sie nicht anstarren. Das wäre ihm wie Leichenschändung vorgekommen.
Er hatte bisher nicht einmal
gewusst, dass man sich weigern konnte, jung zu bleiben. Das ‘Elixier’ zur
Ausschaltung des Alterungsprozesses wurde von den Recyclern in jedes Getränk,
in jede Mahlzeit hineingemischt. Die Wirkung setzte ein, nachdem der Körper
seine pubertäre Umbauphase hinter sich hatte, so dass man für den Rest seines
Lebens aussah wie in den besten Jahren. – Außer es ging etwas schief, wie bei
Lazarus. Aber solche Fälle waren selten. Jedenfalls nahm man das Elixier ganz
automatisch zu sich, und niemand dachte weiter darüber nach. Außer dieser gespenstischen
Gestalt vor ihm. Anscheinend gab die Schamanin jedes Mal, bevor sie etwas zu
sich nahm, der Maschine extra den Befehl, das Elixier nicht hinzuzufügen. Eine
grausam langsame Art des Selbstmords. Wie religiös verblendet musste jemand sein,
um sich so etwas anzutun?
„Ewige Jugend …“, sagte die
Schamanin. Sie schien seine Gedanken zu lesen und amüsiert darüber zu sein, was
sie sah. „Alterslosigkeit ist immer ein Ideal der Menschheit gewesen, aber hat
einen Preis, den von uns Schiffsgeborenen kaum jemand wahrhaben will. Die Generationen
müssen einander Platz machen, sonst wird der natürliche Kreislauf des Lebens
zerstört. Warum haben wir an Bord diese erdrückende Überbevölkerung? Warum gibt
es so viele Amoks und Selbstmorde? Die Jungen haben keine Aufgabe, weil man sie
nicht nachrücken lässt. Die Alten haben sich mit dem Elixier in der Zeit
eingefroren und wundern sich, warum ihr Leben zum Stillstand gekommen ist. Es
gibt keine Entwicklung mehr, keine Veränderung. Früher durchliefen die Menschen
verschiedene Lebensphasen. Irdische Bücher und Filme, die uns überliefert sind,
betrachten das Alter als eine Zeit, in der Weisheit, Ruhe und Transzendenz
einkehren. Die Hormone im Körper verändern sich, das Denken verändert sich. Das
Seelische gewinnt an Bedeutung.“ Sie warf den Kopf mit einer wilden, fast
trotzigen Bewegung in den Nacken. „Ich habe das selbst erfahren, als ich mich
nicht länger dieser künstlichen Starre, diesem Kult der Jugend unterwarf.
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