Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
wusste er schon sein ganzes Leben lang. Er hatte den Tod seiner Eltern vorausgesehen. Er hatte alle Einzelheiten geträumt, bis hin zu dem geplatzten Reifen und der Brücke. Er hatte gespürt, dass im Lagerhaus ein Wachmann war, und das schon, bevor er tatsächlich auftauchte. Er hatte im Jugendgefängnis einen Wasserkrug zerbrochen. Er hatte Richard gerufen, ohne den Mund aufzumachen. Und dann waren da die Träume, die eigentlich mehr als nur Träume waren. Vier Kinder … Drei Jungen und ein Mädchen, die nach ihm riefen.
Und mit ihm waren sie fünf.
Er setzte sich aufs Bett und konzentrierte sich auf die Tür. Wenn er einen Krug zerbrechen konnte, warum sollte er dann kein Schloss öffnen können? Er musste nur die Kraft in sich finden und sie einschalten. Matt musste wieder daran denken, wie er es das letzte Mal versucht hatte, als er in Richards Wohnung aufgewacht war. Da hatte es nicht funktioniert, aber vielleicht hatte er sich nicht genug Mühe gegeben. Außerdem ging es jetzt um Leben und Tod. Vielleicht half das.
Bewusst atmete er langsamer, starrte das Schloss an und versuchte, an nichts anderes zu denken. Er konzentrierte sich auf das Schlüsselloch und stellte sich die Metallbolzen darin vor. Er konnte sie bewegen. Er konnte dieses Schloss mit einem Schlüssel öffnen, der nur in seiner Fantasie existierte. Das war leicht. Er hatte die Kraft dazu.
Er streckte die Hände aus, damit die Energie in Richtung Schloss strömen konnte. »Dreh dich!«, flüsterte er.
Der Türknauf drehte sich.
Matt war außer sich vor Freude – aber nur eine Sekunde lang. Er war grausam getäuscht worden. Noah hatte die Tür aufgeschlossen, um Matt sein Frühstück zu bringen. Er trug ein Tablett mit einem Becher Tee und einer einzelnen Scheibe Toast. An seinem Gürtel hing etwas, das aussah wie eine Sichel. Sie hatte einen Holzgriff und eine gebogene Klinge, die erst vor Kurzem geschliffen worden war und silbern glänzte.
»Frühstück«, knurrte Noah.
»Fettig und eklig«, sagte Matt.
»Willst du es nicht?«
»Ich habe nicht das Frühstück gemeint, sondern dich.«
Im Fußboden fehlte ein Brett. Matt hatte es noch nicht wieder zurückgelegt. Würde Noah es bemerken? Er musste mit ihm reden und seine Aufmerksamkeit vom Boden ablenken.
Noah stellte das Tablett aufs Bett.
»Ich will baden«, sagte Matt.
»Kein Bad.«
»Kann ich dann wenigstens duschen? Oder weißt du nicht, was das ist? So wie du stinkst, hast du wahrscheinlich noch nie geduscht, oder?«
Es funktionierte. Noah starrte ihn wütend an und hatte keinen Blick für den Rest des Raums übrig. Einen Moment stand er nur da und atmete schwer. Er zog die Sichel aus seinem Gürtel und hielt sie sich an die Lippen. Dann fuhr er mit der Zunge über die Schneide. »Ich werde es genießen, wenn sie dich töten«, schnaufte er. »Du wirst kreischen wie ein Schwein. Du wirst kreischen und winseln, und ich werde dabei sein!« Er steckte die Sichel zurück und ging zur Tür. »Heute kein Essen mehr«, verkündete er. »Du kannst hungrig sterben.« Er schlug die Tür zu und verschloss sie.
Matt wartete, bis er sicher sein konnte, dass Noah wirklich gegangen war, dann verschlang er sein Frühstück. Der Tee war kalt und der Toast weich, aber das war ihm egal. Ob warm oder kalt, das Essen würde ihm Kraft geben, und die brauchte er. Insgeheim war er froh, dass Noah ihm kein Essen mehr bringen würde. Das verschaffte ihm mehr Zeit. Ihm war jetzt klar, dass er die Tür nicht durch Zauberei – oder auf irgendeine andere Art – öffnen konnte. Es gab nur einen Ausweg, und der führte durch das Loch im Fußboden. Er musste es vergrößern, und dazu hatte er nun den ganzen Tag Zeit.
Als Matt das nächste Mal auf die Uhr sah, war es drei Uhr nachmittags. Seine Knie schmerzten, sein Rücken war steif. Am Daumen hatte er eine tiefe Risswunde, und seine Finger waren voller Blasen. Aber zwei weitere Bodenbretter waren lose, und er musste nur noch sieben Nägel ziehen, bevor das Loch groß genug für seine Zwecke war. Er würde nicht in die Scheune hinunterspringen können, aber er hatte einen anderen Plan – und nur eine einzige Chance, ihn in die Tat umzusetzen.
Es wurde sechs Uhr, und noch immer bewegte sich das vierte Dielenbrett keinen Millimeter. Zwischen Matt und dem Erfolg standen noch fünf Nägel. Er arbeitete jetzt fieberhaft, und es war ihm egal, wie viel Lärm er machte. Was sollte er tun, wenn sein Plan nicht funktionierte? Er lächelte grimmig. Der
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