Die Furcht des Weisen / Band 1
Terris. »Könntest du dir vorstellen, dich stattdessen uns anzuschließen?«
Einen Moment lang hellte sich Sceops Gesicht hoffnungsfroh auf, doch dann fiel diese Hoffnung wieder von ihm ab. »Ich würde euch doch nur zur Last fallen. Und selbst ein Bettler hat seinen Stolz.«
Terris lachte. »Du willst den Edema etwas von Stolz erzählen? Wir fragen dich nicht aus Mitgefühl. Wir fragen, weil du zu unserer Familie gehörst und weil wir dich bitten würden, uns in den nächsten Jahren viele, viele Geschichten zu erzählen.«
Der Bettler schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verwandt. Ich gehöre nicht zu eurer Familie.«
»Was hat das damit zu tun?«, fragte Terris. »Wir Ruh entscheiden selbst, wer zu unserer Familie gehört und wer nicht. Und du gehörst zu uns. Sieh dich um, und überzeuge dich, ob ich lüge oder nicht.«
Sceop sah sich im Kreis der Gesichter um und sah, dass Terris die Wahrheit sprach.
Und so blieb der alte Mann bei ihnen und lebte viele Jahre lang an ihrer Seite, bis sich ihre Wege schließlich wieder trennten. Er sah vieles und erzählte viele Geschichten, und am Ende waren alle klüger.
Diese Dinge sind wirklich geschehen, wenn auch vor vielen Jahren und weit, weit entfernt von hier. Ich habe es aus dem Munde der Edema Ruh gehört, und daher weiß ich, dass es die Wahrheit ist.
|411| Kapitel 38
Ein wahrer Kern
W ar das das Ende der Geschichte?«, fragte Simmon nach einer höflichen Pause. Er lag immer noch auf dem Rücken und sah zu den Sternen empor.
»Ja.«
»Das Ende war aber anders, als ich erwartet hatte«, sagte er.
»Was hast du denn erwartet?«
»Ich dachte, es kommt noch raus, wer der Bettler wirklich ist. Ich dachte, sobald jemand nett zu ihm ist, gibt er sich als Taborlin der Große zu erkennen. Und dann schenkt er seinem Wohltäter seinen Wanderstab und einen Sack voll Geld und … keine Ahnung … lässt irgendwas Magisches geschehen.«
Wilem sagte: »Er gibt ihm den Stab und sagt: ›Wenn du dich einmal in Gefahr befindest, klopfe mit diesem Stab auf den Boden und sage:
Stab, steh mir bei
!‹ Und dann würde der Stab herumwirbeln und ihn gegen jedweden Angreifer verteidigen.« Wilem lag nun ebenfalls rücklings im hohen Gras. »Ich habe auch nicht geglaubt, dass er wirklich ein alter Bettler ist.«
»Alte Bettler sind doch in Geschichten nie wirklich alte Bettler«, sagte Simmon in leicht vorwurfsvollem Ton. »Sie sind immer eine Hexe oder ein Prinz oder ein Engel oder etwas anderes in der Art.«
»Im wahren Leben sind alte Bettler aber fast immer wirklich alte Bettler«, bemerkte ich. »Aber ich weiß schon, was für Geschichten ihr meint. Das sind Geschichten, die wir anderen Leuten erzählen, um sie zu unterhalten. Diese Geschichte aber ist etwas anderes. Es ist eine Geschichte, die wir uns untereinander erzählen.«
|412| »Und weshalb sollte man sich eine Geschichte erzählen, wenn nicht, um sich zu unterhalten?«
»Um uns etwas ins Gedächtnis zu rufen. Um uns zu lehren, dass –« Ich machte eine vage Geste. »… alles Mögliche.«
»Wie zum Beispiel übertriebene Klischees?«, fragte Simmon.
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»›Den spannen wir vor den Karren, dann kann er ihn ziehen‹?«, erwiderte Simmon und schnaubte empört. »Wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich das übelnehmen.«
»Wenn ich
dich
nicht kennen würde«, erwiderte ich hitzig, »würde
ich
das übelnehmen. »Weißt du nicht, dass die Aturer früher Menschen töteten, wenn sie herausfanden, dass sie auf der Straße lebten? Einer eurer Kaiser hat behauptet, solche Menschen seien schädlich für das Reich. Und dabei waren es meist lediglich Bettler, die aufgrund der Kriege und Steuererhebungen Haus und Hof verloren hatten. Viele wurden einfach in den Militärdienst gezwungen.«
Ich zupfte an meiner Hemdbrust. »Die Edema aber waren ganz besonders begehrt. Auf uns hat man Jagd gemacht, wie auf Füchse. Hundert Jahre lang war die Ruh-Jagd bei der aturischen Oberschicht ein sehr beliebter Zeitvertreib.«
Tiefes Schweigen. Mir tat die Kehle weh, und da erst wurde mir klar, dass ich die letzten Sätze gebrüllt hatte.
Simmons Stimme klang gedämpft. »Nein, das wusste ich nicht.«
Ich trat mir in Gedanken selbst in den Arsch und seufzte. »Entschuldige bitte, Simmon. Es … Das ist schon sehr lange her. Und es ist ja nicht deine Schuld. Das ist eine alte Geschichte.«
»Das muss sie wohl sein, wenn die Amyr darin vorkommen«, sagte Wilem, ganz offensichtlich bemüht,
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