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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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zuckte mit den Achseln und sah weiter dem Tanz des Tehlaners zu.
    »Es könnte sich auch um einen Übertragungsfehler handeln«, sagte Wilem nachdenklich. »Je nachdem, um welche Ausgabe des Buchs es geht, könnte die Kirche selbst dafür verantwortlich sein, dass diese Einzelheit abgeändert wurde. Kaiser Nalto wurde von der Geschichtsschreibung ja schon alles Mögliche in die Schuhe geschoben. Es könnte ein Versuch der Kirche sein, sich von den Amyr zu distanzieren. Sie haben zum Schluss ja schreckliche Dinge getan.«
    »Schlau, schlau«, sagte Puppet, und die Tehlanerpuppe zu seinen Füßen verbeugte sich mit großer Geste vor Wilem.
    Da kam mir etwas in den Sinn. »Puppet«, sagte ich, »weißt du, was sich hinter der verschlossenen Tür eine Etage höher verbirgt? Der großen Steintür?«
    Der Tehlaner hielt beim Tanzen inne, und Puppet bedachte mich mit einem langen, strengen Blick. »Ich glaube nicht, dass die Tür mit den vier Kupferplatten einen Studenten irgendetwas angeht. Du etwa?«
    Ich spürte, dass ich rot wurde. »Nein, Sir«, sagte ich und wich seinem Blick aus.
    Die Anspannung dieses Augenblicks wurde vom gedämpften Klang des Glockenturms durchbrochen, der die Stunde schlug. Simmon fluchte leise. »Ich bin spät dran«, sagte er. »Tut mir leid, Puppet, aber ich muss jetzt los.«
    »Gräme dich nicht ob des hastigen Abschieds«, sagte Puppet, stand auf und hängte den Tehlaner an die Wand. »Es wird ohnehin Zeit, dass ich mich wieder meiner Lektüre widme.« Er nahm auf dem Sessel Platz und schlug ein Buch auf. »Bringt den da mal wieder vorbei«, sagte er und wies, ohne von dem Buch hochzublicken, auf mich. »An dem habe ich noch einiges an Feinarbeit zu verrichten.«

|432| Kapitel 41
Zum allgemeinen Wohl
    I ch sah Simmon an und flüsterte: »
Ivare enim euge

    Er ächzte. »Du sollst dich doch mit Physiognomie befassen.« Der Brand in Ambroses Gemächern lag mittlerweile eine ganze Spanne zurück, und der Winter bleckte nun doch die Zähne und deckte die ganze Universität mit kniehohen Schneewehen zu. Und wie stets, wenn das Wetter unfreundlich wurde, war die Bibliothek bis unters Dach mit büffelnden Studenten gefüllt.
    Da die kleinen Lesezimmer alle belegt waren, waren Simmon und ich gezwungen gewesen, unsere Bücher in den großen Lesesaal zu schleppen. Der hohe, fensterlose Raum war an diesem Tag gut gefüllt, aber dennoch herrschte eine gespenstische Stille. Die dunklen Steinmauern und das gedämpfte Geflüster sorgten für eine leicht unheimliche Atmosphäre, und es war zu spüren, weshalb dieser Saal unter den Studenten auch »die Gruft« genannt wurde.
    »Hier geht’s um Physiognomie«, entgegnete ich leise. »Ich hab mir gerade ein paar von Gibeas Schaubildern angesehen. Und sieh mal, was ich gefunden habe.« Ich hielt ihm das Buch hin.
    »Gibea?«, flüsterte Simmon empört. »Also wirklich, du lernst doch bloß mit mir, damit du mich ständig unterbrechen kannst.« Er wich vor dem Buch zurück, das ich ihm hinhielt.
    »Es ist nichts Groteskes«, erwiderte ich. »Es ist nur … Sieh mal, was da steht.« Simmon stieß das Buch weg, und nun wurde ich wütend. »Pass doch auf!«, fauchte ich. »Das ist ein Original. Das hab ich im hintersten Winkel des Magazins entdeckt, hinter anderen Büchern versteckt, im toten Verzeichnis vergraben. Lorren hackt mir die Daumen ab, wenn damit was passiert.«
    |433| Sim zuckte vor dem Buch zurück, als wäre es glühend heiß. »Ein Original? Grundgütiger Tehlu, dann ist es wahrscheinlich auf Menschenhaut geschrieben. Geh mir bloß weg damit!«
    Fast hätte ich gescherzt, dass Menschenhaut wahrscheinlich gar keine Tinte annehmen würde, doch als ich Sims Gesichtsausdruck sah, verkniff ich es mir. Dennoch musste mich meine Miene verraten haben.
    »Du bist pervers«, spie er und wurde dabei fast unzulässig laut. »Mutter Gottes, weißt du denn nicht, dass er Menschen bei lebendigem Leib aufgeschnitten hat, um zu sehen, wie ihre Organe funktionieren? Ich weigere mich, mir irgendwas anzusehen, das von diesem Monster stammt.«
    Ich legte das Buch wieder hin. »Dann könnte man das Medizinstudium auch gleich aufgeben«, sagte ich so sanft und freundlich ich nur konnte. »Gibeas Forschungen am menschlichen Körper waren die gründlichsten, die je durchgeführt wurden. Seine Arbeitsjournale bilden die Grundlage der modernen Medizin.«
    Simmon blickte weiterhin streng und beugte sich vor, um leise mit mir sprechen zu können. »Als die Amyr gegen den

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