Die Furcht des Weisen / Band 1
inne, um es zu entschlüsseln. »
Ivare enim euge
. Das hast du doch vorhin vor dich hin gemurmelt.« Er schob das Buch wieder von sich fort. »Also, was soll daran so interessant sein – außer dass sein Temisch offenbar miserabel war?«
»Das ist kein Temisch, sondern Tema«, erwiderte ich. »In einem archaischen Sprachgebrauch.«
»Und was soll das heißen?«, fragte er und sah mit gerunzelter Stirn wieder von seinem Buch auf. »Für das große Gute?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.
Zum allgemeinen Wohl
. Na, kommt dir das nicht bekannt vor?«
|436| »Ich weiß nicht, wie lange sie da noch bleibt«, setzte einer der beiden Lärmer die Unterhaltung fort. »Es wäre echt schade, wenn du sie verpassen würdest.«
»Wie gesagt, ich kann heute Abend nicht. Vielleicht am Fellingabend. Am Fellingabend habe ich Zeit.«
»Du solltest vorher hingehen«, riet ich ihm. »Am Fellingabend ist es im ZWEIPENNY immer viel zu voll.«
Sie sahen gereizt zu mir herüber. »Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du kleiner Streber«, sagte der Größere der beiden.
Das brachte mich noch mehr in Harnisch. »Oh, entschuldige. Hattest du etwa nicht mit mir gesprochen?«
»Hat es etwa so ausgesehen, als ob ich mit dir sprechen würde?«, entgegnete er.
»Es hat sich so angehört«, sagte ich. »Wenn ich dich noch drei Tische weiter gut hören kann, musst du doch wollen, dass ich an eurer Unterhaltung teilnehme.« Ich räusperte mich. »Die einzige andere denkbare Erklärung wäre, dass ihr beiden zu blöd seid, um euch im Lesesaal still zu verhalten.«
Er lief rot an und hätte wahrscheinlich zu einer Gegenrede angesetzt, aber sein Freund flüsterte ihm etwas ins Ohr, und dann packten die beiden ihre Sachen zusammen und gingen hinaus. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, gab es hier und da leisen Applaus. Ich dankte meinem Publikum mit einem Lächeln und winkte einmal in die Runde.
»Die Bibliothekare hätten sich schon darum gekümmert«, flüsterte Sim vorwurfsvoll, als wir wieder die Köpfe zusammensteckten, um uns weiter zu unterhalten.
»Sie haben sich aber nicht darum gekümmert«, erwiderte ich. »Und außerdem herrscht jetzt hier wieder Ruhe, und das ist es doch, was zählt. Also, woran erinnert dich ›Zum allgemeinen Wohl‹?«
»An die Amyr natürlich«, sagte er. »In letzter Zeit geht’s bei dir ja nur noch um die Amyr. Aber worauf willst du hinaus?«
»Darauf«, flüstere ich aufgeregt, »dass Gibea insgeheim ein Mitglied des Amyr-Ordens war.«
Sim sah mich skeptisch an. »Das ist eine gewagte These, aber es könnte sein. Das muss dann ungefähr fünfzig Jahre gewesen sein, |437| bevor die Kirche sich endgültig von ihnen abwandte. Da waren sie schon ziemlich heruntergekommen.«
Ich hätte an dieser Stelle gern darauf hingewiesen, dass Gibea nicht unbedingt heruntergekommen war. Es ging ihm um das gleiche Ziel wie den Amyr – das allgemeine Wohl. So grauenhaft seine Experimente auch waren, hatte sein ganzes Werk doch die Medizin auf geradezu unfassbare Weise vorangebracht. Sein Werk hatte in den Jahrhunderten seither wahrscheinlich zehnmal so viele Leben gerettet, wie es damals gekostet hatte.
Ich glaubte aber nicht, dass Sim dieses Argument gelten lassen würde. »Ob nun heruntergekommen oder nicht – er war jedenfalls insgeheim Mitglied der Amyr. Weshalb sonst hätte er ihr Motto in verschlüsselter Form in sein Arbeitsjournal aufnehmen sollen?«
Simmon zuckte die Achseln. »Also gut, er war ein Amyr. Na und?«
Ich riss empört die Hände hoch und musste mich zusammenreißen, nicht laut zu werden. »Das bedeutet, dass die Amyr Geheimmitglieder hatten,
bevor
die Kirche sich von dem Orden abwandte! Als der Pontifex den Orden auflöste, hatten die Amyr also insgeheim Verbündete. Verbündete, die ihnen Schutz spenden konnten. Das bedeutet, dass es den Orden der Amyr heute immer noch geben könnte – im Verborgenen, als Geheimorganisation, und dass sie ihre Ziele weiter verfolgen.«
Simmons Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Erst dachte ich, er würde mir zustimmen, doch dann spürte ich ein Kribbeln im Nacken, und mir wurde klar, woran es wirklich lag. »Guten Tag, Meister Lorren«, sagte ich in respektvollem Ton, ohne mich umzusehen.
»Mit Studenten an anderen Tischen zu sprechen ist nicht gestattet«, sagte er hinter mir. »Du hast fünf Tage Hausverbot.«
Ich nickte, und wir beide standen auf und packten unsere Sachen. Mit ausdrucksloser Miene streckte mir Lorren eine
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