Die Furcht des Weisen / Band 1
festgehalten. Ich denke mal, das können wir ausschließen. Sie waren zu bedeutsam, um von sämtlichen Historikern, Aktenschreibern und Protokollanten der Kirche vollkommen vernachlässigt zu werden.« Ich zog den ersten Finger wieder ein.
»Zweitens: Aufgrund irgendeines seltsamen Zufalls sind die Bücher, die Informationen über sie enthalten, einfach nie in diese Bibliothek gelangt. Aber auch das kann nicht sein. Es ist schlicht und einfach nicht vorstellbar, dass in all den Jahren nichts über dieses Thema in der größten Bibliothek der Welt gelandet sein sollte.« Ich zog auch den zweiten Finger wieder ein.
»Drittens«, sagte ich und reckte nun nur noch einen Finger empor. »Irgendjemand hat diese Informationen getilgt, abgeändert oder vernichtet.«
Wilem runzelte die Stirn. »Wer würde so was tun?«
»Tja, wer?«, sagte ich. »Wer würde am meisten davon profitieren, wenn alle Informationen über die Amyr verschwinden würden?« Ich zögerte, machte es spannend. »Wer außer den Amyr selbst?«
Ich hatte erwartet, dass er diese Idee sofort abtun würde, doch dem war nicht so. »Ein interessanter Gedanke«, sagte er. »Aber warum sollte man annehmen, dass die Amyr selbst dahinter stecken? Es wäre doch viel plausibler, anzunehmen, dass die Kirche dafür verantwortlich ist. Es würde den Tehlanern doch sicherlich sehr gefallen, wenn die Untaten der Amyr in Vergessenheit gerieten.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Aber die Kirche hat hier im Commonwealth keinen allzu großen Einfluss. Und diese Bücher kommen aus der ganzen Welt. Ein kealdischer Historiker hätte doch keine Bedenken, eine Geschichte der Amyr zu schreiben.«
»Ein kealdischer Historiker hätte aber auch kein allzu großes Interesse, über den ketzerischen Zweig einer heidnischen Kirche zu |492| schreiben«, erwiderte Wilem. »Und außerdem: Wie könnte eine Handvoll verrufener Amyr etwas vollbringen, wozu die Kirche selbst nicht in der Lage wäre?«
Ich beugte mich vor. »Ich glaube, die Amyr sind in Wirklichkeit viel älter als die Tehlanerkirche«, sagte ich. »In den Zeiten des Aturischen Reichs leiteten sie einen Großteil ihrer Macht von der Kirche her, aber sie waren weit mehr als nur eine Gruppe umherziehender Richter.«
»Und was führt dich zu dieser Auffassung?«, fragte Wil. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass ich seine Zustimmung gerade eher verlor als gewinnen.
Eine antike Vase
, dachte ich.
Eine Geschichte, die ich in Tarbean von einem alten Mann gehört habe. Ich weiß es, weil einem der Chandrian etwas Entsprechendes rausgerutscht ist, nachdem sie meine ganze Familie niedergemetzelt hatten.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Mir war klar, wie verrückt es klingen würde, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Deshalb hatte ich die Universitätsbibliothek durchstöbert. Ich brauchte irgendetwas Greifbares, das meine Theorie untermauerte, etwas, womit ich mich nicht dem allgemeinen Gelächter preisgab.
»Ich habe Abschriften von Gerichtsakten gefunden, aus der Zeit, als die Amyr verurteilt wurden«, sagte ich. »Weißt du, wie viele Amyr sie damals in Tarbean vor Gericht gestellt haben?«
Wil zuckte die Achseln.
Ich hob einen Finger. »Einen. Einen einzigen Amyr in ganz Tarbean. Und der Schreiber, der das Verfahren protokollierte, hat deutlich vermerkt, dass es sich bei dem Mann, der da vor Gericht gestellt wurde, um einen Einfaltspinsel handelte, der gar nicht begriff, worum es ging.«
Ich sah immer noch Zweifel auf Wilems Gesicht. »Man stelle sich das vor«, sagte ich. »Die Bruchstücke, die ich gefunden habe, deuten darauf hin, dass es im ganzen Reich zu dem Zeitpunkt, als sie aufgelöst wurden, mindestens dreitausend Amyr gab. Dreitausend bestens ausgebildete, schwer bewaffnete, finanzkräftige Männer und Frauen, die felsenfest entschlossen waren, dem allgemeinen Wohl zu dienen.
|493| Und dann sagt sich die Kirche eines Tages von ihnen los, löst ihren ganzen Orden auf und beschlagnahmt ihr Vermögen.« Ich schnippte mit den Fingern. »Und dreitausend mordsgefährliche Gerechtigkeitsfanatiker verschwinden einfach von der Bildfläche? Sie geben einfach auf und sagen sich, dass sich jetzt halt eine Zeit lang mal jemand anderes um das allgemeine Wohl kümmern soll? Ohne dagegen zu protestieren? Ohne Widerstand zu leisten? Einfach so?«
Ich sah ihn mit ernstem Blick an und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Das ginge gegen die Natur des Menschen. Und außerdem habe ich keinen einzigen Anhaltspunkt
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