Die Furcht des Weisen / Band 1
ergattert zu haben.
»Gib’s doch einfach auf«, sagte Wil. »Wie lange verschwendest du mit den Amyr nun schon deine Zeit? Seit zwei Spannen?«
Ich nickte, wollte ihm nicht gestehen, dass ich mit den Recherchen zu den Amyr schon lange vor unserer Wette begonnen hatte, die uns dann schließlich zu Puppet führte.
»Und was hast du bisher entdeckt?«
»Regaleweise Bücher«, sagte ich. »Dutzende Anekdoten. Erwähnungen in hundert Geschichtswerken.«
»Und diese Fülle an Informationen irritiert dich.«
»Nein«, erwiderte ich. »Der
Mangel
an Informationen ist es, was mich stört. Es gibt in all diesen Büchern keine einzige verlässliche Information über die Amyr.«
»Keine einzige?«, erwiderte Wilem skeptisch.
»Oh, jeder Historiker der letzten dreihundert Jahre
erwähnt
sie«, sagte ich. »Und dann spekulieren sie darüber, inwiefern die Amyr den Untergang des Reichs beeinflusst haben könnten. Philosophen diskutieren die ethischen Implikationen ihrer Taten.« Ich deutete auf die Bücher. »Das alles sagt viel darüber, was bestimmte Leute über die Amyr dachten. Es sagt aber nichts über die Amyr selbst.«
Wilem beäugte stirnrunzelnd meinen Bücherstapel. »Das können doch nicht alles nur Geschichtsschreiber und Philosophen sein.«
»Es gibt auch Anekdoten über sie«, sagte ich. »Anfangs waren es Geschichten über all das Unrecht, das sie aus der Welt schafften. Später dann waren es Geschichten über die schrecklichen Untaten, die sie selbst begingen. Ein Amyr hat in Renere einen korrupten Richter getötet. Ein anderer hat in Junpui einen Bauernaufstand niedergeschlagen. Ein dritter hat in Melithi den halben Adel der Stadt vergiftet.«
»Und das sind keine verlässlichen Informationen?«, fragte Wilem.
»Es sind nur Anekdoten«, sagte ich. »Aus zweiter oder gar dritter Hand. Drei Viertel davon beruhen lediglich auf Hörensagen. Und ich |490| finde nirgends Belege dafür. Wieso finde ich in den Akten der Kirche keine einzige Erwähnung dieses korrupten Richters? Sein Name müsste doch bei jedem Fall auftauchen, den er verhandelt hat. Wann genau fand dieser Bauernaufstand statt, und wieso wird er in keinem Geschichtswerk erwähnt?«
»Das ist dreihundert Jahre her«, sagte Wilem. »Du kannst nicht erwarten, dass diese ganzen kleinen Einzelheiten sich erhalten haben.«
»Ich erwarte aber, dass wenigstens
einige
dieser kleinen Einzelheiten sich erhalten haben. Du weißt doch, wie penibel die Tehlaner mit ihren Akten sind«, sagte ich. »Wir haben hier im zweiten Untergeschoss Gerichtsakten aus tausend Jahren und hundert Städten. Ganze Räume voll …«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber gut. Lassen wir die kleinen Einzelheiten beiseite. Es gibt nämlich auch große Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Wann wurde der Orden der Amyr gegründet? Wie viel Amyr gab es? Wer hat sie bezahlt, und wie viel Geld haben sie bekommen? Woher stammte dieses Geld? Wo wurden sie ausgebildet? Wie kam es, dass sie ein Teil der Tehlanerkirche wurden?«
»Diese Frage hat Feltemi Reis beantwortet«, sagte Wilem. »Sie gingen aus der Tradition der Bettelrichter hervor.«
Ich nahm wahllos eines der Bücher und legte es vor ihm auf den Tisch. »Dann zeig mir einen einzigen Beweis für diese Theorie. Zeig mir einen einzigen Aktenvermerk, der belegt, dass ein Bettelrichter in den Rang eines Amyr erhoben wurde. Zeig mir einen einzigen Beleg dafür, dass ein Amyr in den Diensten eines Gerichtshofs stand. Zeig mir ein einziges Kirchendokument, dem sich entnehmen lässt, dass ein Amyr einen Fall verhandelt hat.« Ich verschränkte mit streitlustiger Miene die Arme vor der Brust. »Los, ich warte.«
Wilem beachtete das Buch gar nicht. »Vielleicht gab es gar nicht so viele Amyr, wie man immer annimmt. Vielleicht waren es nur einige wenige Personen, und ihr Ruf entstand durch die Macht, die sie ausübten.« Er sah mich vielsagend an. »Du müsstest doch wissen, wie so was funktioniert.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist eine signifikante Lücke. Manchmal findet man nämlich etwas, indem man nichts findet.«
|491| »Du hörst dich schon an wie Elodin«, sagte Wilem.
Ich sah ihn mit einem Stirnrunzeln an, beschloss aber, nicht darauf anzuspringen. »Nein, hör mir mal kurz zu. Wieso gibt es nur so wenige stichhaltige Informationen über die Amyr? Dafür gibt es nur drei mögliche Erklärungen.«
Ich streckte drei Finger hoch, um es an ihnen abzuzählen. »Erstens: Es wurde nichts schriftlich
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