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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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und kaute langsam meinen Fisch. Ich gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen.
    Er hob eine Augenbraue, als wartete er, ob ich dazu irgendwas zu sagen hatte.
    Als ich jedoch nichts sagte, fuhr er fort: »Es war einmal ein hoch gelehrter Arkanist. Er beherrschte die ganze Sympathie, Sygaldrie und Alchemie. Er kannte zehn Namen, sprach acht Sprachen und war ein glänzender Schriftsteller. Das Einzige, das ihn daran hinderte, ein Meister zu werden, war ein gewisser Mangel an Taktgefühl und gesellschaftlichen Umgangsformen.«
    Dal trank einen Schluck Wein. »Dieser Mann jagte nun also eine Zeit lang dem Wind hinterher und hoffte, in der großen weiten Welt |499| sein Glück zu machen. Und während er unterwegs war auf der Straße nach Tinuë, kam er an einen See, den er überqueren musste.«
    Dal lächelte. »Doch glücklicherweise gab es dort einen Fährmann, einen Edema Ruh, der anbot, ihn mit seinem Boot ans andere Ufer zu bringen. Der Arkanist, der sah, dass diese Überfahrt einige Stunden dauern würde, begann ein Gespräch mit ihm.
    ›Was haltet Ihr‹, fragte er den Fährmann, ›von Teccams Theorie, dass Energie eine Elementarkaft ist und nichts Materielles?‹
    Der Fährmann antwortete, er habe noch nie darüber nachgedacht und habe auch nicht die Absicht, das zu tun.
    ›Aber Ihr habt doch sicherlich im Laufe Eurer Ausbildung Teccams
Theophanie
durchgenommen?‹, fragte der Arkanist.
    ›Ich habe, ehrlich gesagt, nie das bekommen, was Ihr als Ausbildung bezeichnen würdet, Euer Ehren‹, erwiderte der Fährmann. ›Und diesen Teccam, von dem Ihr sprecht, würde ich wahrscheinlich nicht mal erkennen, wenn er zu uns kommen und meiner Frau Nadeln verkaufen würde.‹
    Neugierig geworden, stellte der Arkanist noch ein paar weitere Fragen, und der Fährmann gestand, dass er nicht wisse, wer Feltemi Reis gewesen sei und wozu ein Schwunger diene. Der Arkanist fragte eine geschlagene Stunde so weiter, erst aus Neugier, dann immer mehr aus Bestürzung. Das Fass zum Überlaufen brachte die Erkenntnis, dass der Fährmann nicht einmal lesen und schreiben konnte.
    ›Also wirklich‹, sagte der Arkanist entsetzt, ›jeder Mensch hat doch die Aufgabe, sich fortzubilden. Ein Mensch, der nie irgendeine Bildung genossen hat, ist doch kaum etwas Besseres als ein Tier.‹«
    Dal grinste. »Wie du dir denken kannst, geriet das Gespräch anschließend ziemlich ins Stocken. Sie fuhren noch eine Stunde lang in angespanntem Schweigen weiter, und gerade, als das gegenüberliegende Ufer in Sicht kam, zog ein Unwetter auf. Die Wellen begannen das kleine Boot so hin und her zu werfen, dass die Bootsplanken ächzten.
    Der Edema sah sich die Wolken ganz genau an und sagte: ›In fünf Minuten wird es erst richtig schlimm, und bevor es wieder aufklart, wird es sogar noch ein bisschen schlimmer. Dieses Boot wird das |500| nicht überstehen. Wir werden das letzte Stückchen schwimmen müssen.‹ Und damit zog sich der Fährmann das Hemd aus und band es sich um die Taille.
    ›Aber ich kann gar nicht schwimmen‹, sagte der Arkanist.«
    Dal trank den letzten Schluck von seinem Wein und stellte den Kelch umgekehrt auf dem Tisch ab. Einen Moment lang herrschte erwartungsvolles Schweigen, und er sah mich mit einem ganz leicht selbstzufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht an.
    »Keine schlechte Geschichte«, sagte ich. »Aber den Ruh-Akzent habt Ihr ein bisschen dick aufgetragen.«
    Dal deutete eine Verneigung an. »Vielen Dank. Das werde ich beim nächsten Mal beherzigen«, sagte er, hob dann einen Zeigefinger und sah mich mit Verschwörermiene an. »Aber meine Geschichte ist nicht nur zur Unterhaltung bestimmt, sondern es ist in ihr auch ein wahrer Kern verborgen, und zwar dort, wo nur der allerklügste Student ihn zu entdecken vermag.« Nun nahm er einen geheimnisvollen Gesichtsausdruck an. »Alle Wahrheit der Welt ist in Geschichten enthalten.«

    Als wir an diesem Abend im ANKER’S Karten spielten, erzählte ich meinen Freunden von dieser Begegnung.
    »Er wollte dir damit einen Wink geben, du Holzkopf«, sagte Manet leicht gereizt. Wir hatten schon den ganzen Abend kein Glück mit den Karten und lagen fünf Partien zurück. »Und du weigerst dich einfach, darauf zu hören.«
    »Er will damit sagen, dass ich für ein Trimester mein Studium der Sympathie unterbrechen sollte?«, fragte ich.
    »Nein«, erwiderte Manet unwirsch. »Er will dir damit sagen, was auch ich dir schon zweimal gesagt habe. Dass du ein absoluter Vollidiot wärst, wenn du

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