Die Furcht des Weisen / Band 1
an und konnte sie nirgends entdecken. Das ging so einige Tage lang, und ich wurde immer nervöser und schob ihr sogar Entschuldigungsbriefe unter der Tür durch, bis ich schließlich von Mola erfuhr, dass sie verreist war, bald aber wieder zurücksein würde.
Die Tage gingen dahin, und ich saß weiter untätig herum, während der Winter die Universität allmählich wieder freigab. Der Rauhreif verschwand von den Fensterscheiben, die Schneewehen sanken ins sich zusammen, und an den Bäumen zeigten sich die ersten frischen Triebe. Als Simmon schließlich zum ersten Mal wieder ein nacktes Bein unter dem Saum eines wehenden Rocks erblickte, erklärte er den Frühling für offiziell eröffnet.
Eines Nachmittags, als ich mit Stanchion bei einem Gläschen Metheglin zusammensaß, kam Threpe ins Lokal, und er platzte geradezu vor Aufregung. Er wechselte mit mir an einen abseits stehenden Tisch auf dem ersten Rang und konnte es offenbar kaum erwarten, mir von seinen Neuigkeiten zu berichten.
Wir setzten uns, und Threpe faltete die Hände auf der Tischplatte. »Da es uns ja nicht gelungen ist, hier vor Ort einen Schirmherrn für dich zu finden, habe ich in letzter Zeit meine Netze etwas weiter ausgeworfen. Es ist zwar schön, wenn der Schirmherr in der Nähe lebt, aber wenn man von einem einigermaßen einflussreichen Lord unterstützt wird, kommt es nicht so sehr darauf an, wo er lebt.«
Ich nickte. Meine Truppe war unter der Schirmherrschaft von Lord Greyfallow durch die ganze Welt gereist.
Threpe grinste. »Warst du schon mal in Vintas?«
|507| »Möglicherweise«, erwiderte ich. Er sah mich verwirrt an, und ich erklärte: »Ich bin als Kind viel umhergereist. Aber ich weiß nicht mehr, ob wir jemals so weit nach Osten gekommen sind.«
Er nickte. »Weißt du, wer Maer Alveron ist?«
Ja, das wusste ich, aber ich sah, dass Threpe darauf brannte, es mir zu erzählen. »Der Name sagt mir irgendwas …«, antwortete ich.
Threpe grinste. »Kennst du die Redewendung ›So reich wie der König von Vint‹?«
Ich nickte.
»Also, das ist er. Sein Ururgroßvater war noch König von Vint, bis das Aturische Reich dann einmarschierte und jedermann zum Eisernen Gesetz und zum
Buch des Weges
bekehrte. Wenn vor einem Dutzend Generationen einige Dinge anders gelaufen wären, wären die Alverons heute immer noch die königliche Familie von Vintas, und nicht die Calanthis, und mein Freund, der Maer, wäre der König.«
»Dein Freund?«, sagte ich voller Bewunderung. »Du bist mit Maer Alveron befreundet?«
Threpe machte eine vage Geste. »
Freund
ist vielleicht ein bisschen übertrieben«, gestand er. »Wir korrespondieren seit einigen Jahren, berichten einander Neuigkeiten aus unserem jeweiligen Winkel der Welt und haben einander auch schon den einen oder anderen Gefallen erwiesen. Sagen wir also, er ist ein
Bekannter
von mir.«
»Eine beeindruckende Bekanntschaft. Wie ist er denn so?«
»Seine Briefe sind sehr höflich und nie auch nur ein bisschen snobistisch, obwohl er ja rangmäßig ein gutes Stück über mir steht«, sagte Threpe bescheiden. »Er ist wirklich vom Scheitel bis zur Sohle ein König, ihm fehlen nur der Titel und die Krone. Als der Staat Vintas gegründet wurde, hat sich seine Familie geweigert, ihre umfassenden Machtbefugnisse aufzugeben. Daher ist der Maer auch heute noch befugt, so ziemlich alles zu tun, wozu sonst nur König Roderic das Recht hat: Titel verleihen, Armeen aufstellen, Steuern erheben …«
Threpe schüttelte den Kopf. »Aber ich habe ganz vergessen, was ich eigentlich wollte«, sagte er und begann in seinen Taschen zu suchen. »Ich habe nämlich gestern einen Brief von ihm bekommen.« Er zog ein Blatt Papier hervor, faltete es auseinander, räusperte sich und las vor:
|508|
Ich weiß ja, dass es bei euch Dichter und Musiker in Hülle und Fülle gibt. Ich bräuchte nämlich dringend einen jungen Mann, der redegewandt ist. Hier in Severen finde ich niemanden, der meinen Anforderungen genügt. Und ich gebe mich natürlich nur mit dem Besten zufrieden.
Er sollte vor allem redegewandt sein, vielleicht auch ein Musiker. Außerdem hätte ich gern, dass er klug, höflich, wohlerzogen, gebildet und diskret ist. Wenn Ihr diese Aufzählung lest, werdet Ihr verstehen, weshalb es mir bisher nicht gelungen ist, so jemanden zu finden. Falls Ihr einen jungen Mann kennt, auf den das zutrifft, so ermuntert ihn bitte, mich aufzusuchen.
Ich würde Euch auch verraten, wozu ich ihn einzusetzen gedenke,
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