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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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ging ich anderen Dingen nach. Der Maer sprach kaum noch mit mir. Stapes hatte mir von Anfang an misstraut, und die Flittiche erfreuten sich bester Gesundheit. Am schlimmsten aber war, dass ich in meinem Quartier gefangen war, während Denna in |604| der Spenglerstraße auf mich wartete und sich bestimmt fragte, warum ich sie nicht längst besucht hatte.
    Ich merkte gerade noch, dass Caudicus mir eine Frage gestellt hatte, und hob den Kopf. »Entschuldigt, wie bitte?«
    »Könntet Ihr mir die Säure reichen?«, wiederholte Caudicus. Er hatte soeben einige Blätter in den Mörser gegeben.
    Ich nahm die gläserne Karaffe und wollte sie ihm schon geben, da fiel mir ein, dass ich als einfältiger Junker ja Salz nicht von Schwefel unterscheiden konnte und ganz gewiss keine Ahnung hatte, was eine Säure war.
    Doch ich wurde weder rot noch begann ich zu schwitzen oder zu stottern. Ich bin ein Edema Ruh und selbst in betrunkenem und benebeltem Zustand noch durch und durch Schauspieler. Ungerührt erwiderte ich Caudicus’ Blick. »Die Karaffe kommt als Nächstes, richtig? Die mit der durchsichtigen Flüssigkeit.«
    Caudicus musterte mich misstrauisch.
    Ich grinste zufrieden. »Ich habe ein gutes Auge für solche Einzelheiten. Zweimal habe ich Euch jetzt zugesehen, und ich wette, ich könnte die Arznei des Maer schon selbst herstellen, wenn ich wollte.«
    Ich legte den ganzen Stolz des Ahnungslosen in meine Stimme. Schließlich ist das Zeichen des wahren Adligen der unerschütterliche Glaube daran, dass er, wenn er nur will, alles kann: Leder gerben, ein Pferd beschlagen, Geschirr töpfern, ein Feld pflügen …
    Caudicus musterte mich noch einen Moment unschlüssig und gab dann einige Tropfen der Säure in die Schale. »Bestimmt könntet Ihr das.«
    Drei Minuten später befand ich mich auf dem Weg zu den Gemächern des Maer. Mit schweißnasser Hand umklammerte ich das warme Fläschchen mit der Arznei. Ob ich Caudicus auch diesmal erfolgreich getäuscht hatte, spielte im Grunde keine Rolle mehr. Entscheidend war, dass ich mit irgendetwas sein Misstrauen erregt hatte.
    Auf dem Weg ins Schlafgemach spürte ich Stapes’ Blick wie ein Messer im Rücken. Der Maer hob nicht einmal den Kopf, als ich das neue Gift in die Futterspender der Schnipper schüttete. Das fröhliche Gezwitscher der schönen Vögelchen brachte mich in Rage.
    |605| Auf Umwegen kehrte ich in mein Quartier zurück und machte mich unterwegs mit dem Grundriss der Burg etwas besser vertraut. Über einen Fluchtweg hatte ich bereits nachgedacht. Das Misstrauen des Leibarztes bestärkte mich nun darin, meine Überlegungen zum Abschluss zu bringen. Wenn die Schnipper auch am folgenden Tag noch quietschfidel durch ihren Käfig flatterten, war ich vermutlich gut beraten, so schnell und unauffällig wie möglich aus Severen zu verschwinden.

    Später am Abend, als ich einigermaßen sicher sein konnte, dass der Maer mich nicht mehr rufen würde, schlüpfte ich durch das Fenster meines Zimmers und sah mich gründlich im Garten um. So spät brauchte ich keine Wachen mehr zu fürchten, doch musste ich mich vor einem halben Dutzend Paare verstecken, die im Mondschein spazieren gingen. Zwei weitere Paare saßen in romantische Gespräche vertieft in einer Laube beziehungsweise einem Pavillon. Über ein letztes Paar wäre ich fast gestolpert, als ich mich durch eine Hecke zwängte. Die beiden machten keinen Spaziergang und kommunizierten auch nicht im herkömmlichen Sinn, waren einander aber auf zärtliche Weise verbunden. Sie bemerkten mich nicht.
    Anschließend kletterte ich auf ein Dach. Von dort überblickte ich die Umgebung der Burg. Der Westen schied als Fluchtweg aus, da die Burgmauer dort mit der senkrechten Bastion abschloss, aber es musste eine andere Möglichkeit geben.
    Ich nahm den Süden näher in Augenschein und bemerkte dabei, dass in einem der Türme noch Licht brannte. Durch ein Fenster schien das unverwechselbare Rot der Sympathielampen. Caudicus war noch wach.
    Vorsichtig schlich ich über das Dach und spähte in das etwas tiefer gelegene Fenster des Turms. Caudicus arbeitete nicht, er unterhielt sich mit einem Besucher. Ich streckte den Hals, konnte die betreffende Person aber nicht sehen. Durch das in Blei gefasste Glasfenster drang kein Laut nach draußen.
    Ich wollte schon zu einem anderen Fenster weiterschleichen, da |606| stand Caudicus auf und ging zur Tür. Die andere Person kam in Sicht, und ich erkannte selbst aus meinem steilen Blickwinkel von oben

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