Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
Essen zu heucheln, traf ich vor dem Festsaal ein.
    Ich mochte auf das Essen vorbereitet sein, nicht aber auf den Anblick von Meluan Lackless selbst. Meine Bühnenerfahrung half mir zum Glück, das Begrüßungsritual zu überstehen. Ich bot ihr lächelnd meinen Arm, und sie nickte höflich. Nebeneinander schritten wir zu Tisch.
    Dort standen hohe Kerzenleuchter mit Dutzenden von Kerzen. Silberne Kannen enthielten warmes Wasser für die Schalen zum Reinigen der Hände und kaltes zum Trinken. Üppige Blumengestecke in alten Vasen verströmten süßen Duft, aus Füllhörnern quoll glänzendes Obst. Ich fand alles ein wenig zu grell und protzig, aber so stellten eben Gastgeber traditionell ihren Reichtum zur Schau.
    Ich geleitete Lady Lackless zum Tisch und rückte ihr den Stuhl zurecht. Auf dem Weg durch den Saal hatte ich vermieden, in ihre Richtung zu blicken, doch als ich ihr jetzt half, sich zu setzen, kam ihr Profil mir so vertraut vor, dass ich sie unwillkürlich länger ansah. Ich kannte sie, dessen war ich mir sicher. Ich konnte mich bloß beim besten Willen nicht erinnern, woher.
    Ich setzte mich ebenfalls und überlegte angestrengt, wo wir uns begegnet sein mochten. Wenn die Ländereien der Lackless nicht tausend Meilen von der Universität entfernt gelegen hätten, hätte ich |639| angenommen, dass ich sie von dort kannte. Doch das war abwegig. Eine Erbin der Lackless studierte nicht so weit von zu Hause entfernt.
    Wieder ließ ich den Blick über die so quälend vertrauten Gesichtszüge wandern. War ich ihr im EOLIAN begegnet? Wohl kaum, ich hätte mich daran erinnert. Sie war auffallend schön, mit einem ausgeprägten Kinn und dunkelbraunen Augen. Wenn ich ihr dort begegnet wäre …
    »Was interessiert Euch so an mir?«, fragte sie, ohne sich mir zuzuwenden. Sie klang freundlich, doch hörte ich den unterschwelligen Vorwurf heraus.
    Ich hatte sie angestarrt! Wir hatten uns eben erst gesetzt, und schon hatte ich die erste Peinlichkeit begangen. »Verzeiht, aber ich betrachte gern Gesichter, und Eures fiel mir besonders auf.«
    Meluan wandte sich mir zu, und ihre Verärgerung legte sich ein wenig. »Seid Ihr ein Turagier?«
    Turagier behaupten, aus Gesicht, Augen und Kopfform Charakter und Zukunft der betreffenden Person lesen zu können. Ein vintischer Aberglaube reinster Güte. »Ich beschäftige mich ein wenig mit ihrer Kunst.«
    »Tatsächlich? Was verrät Euch mein Gesicht?« Sie kehrte mir wieder ihr Profil zu.
    Ich tat, als studierte ich eingehend ihre blasse Haut und die kunstvoll zu Locken gedrehten kastanienbraunen Haare. Ihr Mund war voll und rot, ohne dass sie eine Farbe aufgetragen hätte, ihr Kopf stolz erhoben und der Hals anmutig gebogen.
    Ich nickte. »Ich sehe ein wenig von Eurer Zukunft.«
    Ihre Augenbrauen hoben sich leicht. »Was seht Ihr?«
    »Jemand wird sich gleich bei Euch entschuldigen. Verzeiht meinen Augen, sie flattern wie die Calanthis von einem Ort zum anderen. Ich konnte sie nicht von der schönen Blume Eures Gesichts fernhalten.«
    Meluan lächelte, ohne rot zu werden. Sie war für Schmeicheleien empfänglich, doch war ich nicht der Erste, der ihr schmeichelte. Ich merkte mir beides.
    »Das vorauszusagen war leicht«, sagte sie. »Seht Ihr noch etwas?«
    Ich betrachtete wieder forschend ihr Gesicht. »Noch zweierlei. Ich |640| sehe, dass Ihr Meluan Lackless seid und dass ich Euch zu Diensten stehe.«
    Sie lächelte erneut und reichte mir ihre Hand zum Kuss. Ich nahm sie und beugte mich darüber. Ich küsste sie nicht, wie es im Commonwealth schicklich gewesen wäre, sondern drückte nur kurz die Lippen auf meinen Daumen, mit dem ich die Hand hielt. Die Hand zu küssen wäre in diesem Teil der Welt eine große Frechheit gewesen.
    Wir wurden in unserem Geplauder durch das Eintreffen der Suppe unterbrochen. Vierzig Diener stellten die Teller zur gleichen Zeit vor die vierzig Gäste. Ich kostete. Was um alles in der Welt sollte an einer süßen Suppe gut schmecken, die auch noch kalt war?
    Ich aß noch einen Löffel und tat so, als schmecke sie mir. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich meinen Nachbarn auf der anderen Seite, einen kleinen alten Mann, der, wie ich wusste, Vizekönig von Bannis war. Sein Gesicht und seine Hände waren faltig und fleckig, seine grauen Haare standen in alle Richtungen ab. Ich sah, wie er ganz unbefangen einen Finger in die Suppe tunkte und ihn ableckte. Anschließend schob er den Teller beiseite.
    Er kramte in seinen Taschen, holte etwas hervor und

Weitere Kostenlose Bücher