Die Furcht des Weisen / Band 1
vertrieben hätte.
Hatte ich einen Brief oder ein Lied fertiggestellt, schrieb ich mein Werk noch einmal ab. Ich glättete noch einige Kanten und entfernte die eine oder andere zu offene Wendung. In dieser Weise bearbeitete ich es, bis es Meluan Lackless so angegossen passte wie ein Handschuh aus Kalbsleder.
Es war eine sorgenfreie Zeit. In Severen konnte ich Denna viel leichter finden als je in Imre. Wir verbrachten oft mehrere Stunden miteinander und trafen uns manchmal sogar mehrmals am Tag oder an drei oder vier Tagen hintereinander.
Obwohl ich der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass nicht alles nur eitel Sonnenschein war. Die Decke hatte auch ein paar rauhe Stellen, wie mein Vater zu sagen pflegte.
Da war zum einen ein junger Herr namens Gerred, der Denna bei einem unserer ersten Treffen in der Unterstadt begleitete. Er kannte |646| sie natürlich nicht als Denna, sondern als Alora. Ich nannte sie den Rest des Tages ebenfalls so.
Auch Gerreds Gesicht trug jenen verlorenen, mir inzwischen zu Genüge vertrauten Ausdruck. Er kannte Denna lange genug, um sich in sie verliebt zu haben, und nun dämmerte ihm die Erkenntnis, dass seine Zeit sich dem Ende näherte.
Ich sah ihn dieselben Fehler machen wie seine Vorgänger. Er legte besitzergreifend den Arm um Denna und schenkte ihr einen Ring. Wenn ihr Blick auf unserem Spaziergang durch die Stadt länger als drei Sekunden auf einem Gegenstand ruhte, erbot er sich, ihn ihr zu kaufen. Sie sollte ihm versprechen, dass sie ihn zu weiteren Veranstaltungen begleiten würde. Vielleicht zu einem Tanzvergnügen in der Villa der DeFerres? Oder zu einem Abendessen im GOLDENEN BRETT? Und morgen wurde übrigens von der Truppe des Grafen Abelard der
König für zehn Pennys
gegeben …
Für sich genommen wäre gegen keine dieser Anfragen etwas einzuwenden gewesen. Sie hätten sogar einen gewissen Charme gehabt. Doch zusammengenommen verrieten sie, was dahinter steckte: reinste Verzweiflung. Gerred klammerte sich an Denna wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke.
Er warf mir böse Blicke zu, wenn Denna nicht hersah, und als sie sich am Abend von uns verabschiedete, war sein Gesicht so eingefallen und wächsern, als sei er bereits zwei Tage tot.
Die zweite rauhe Stelle war schlimmer. Nachdem ich dem Maer zwei Spannen lang bei seiner Brautwerbung geholfen hatte, verschwand Denna plötzlich spurlos und ohne Vorwarnung, ohne einen Abschiedsbrief oder eine Entschuldigung. Ich wartete drei Stunden vor dem Mietstall, an dem wir verabredet waren. Anschließend begab ich mich zu ihrer Herberge und musste erfahren, dass sie am Abend zuvor mitsamt Gepäck abgereist war.
Ich ging zu dem Park, in dem wir am Vortag zu Mittag gegessen hatten, und zu einem Dutzend anderer Orte, an denen wir uns öfter getroffen hatten. Es war fast Mitternacht, als ich mit dem Aufzug an der Bastion hinauffuhr. Ich hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass sie oben ungeduldig auf mich warten und mir wieder in die Arme fliegen würde.
|647| Doch sie war nicht da. In jener Nacht schrieb ich keinen Brief und auch kein Lied für Meluan.
Am Tag darauf irrte ich stundenlang verzweifelt und gekränkt durch die Stadt. Nach meiner Rückkehr in meine Unterkunft am späten Abend bedeckte ich schwitzend und fluchend zwanzig Blätter mit Entwürfen, bis ich endlich drei kurze, halbwegs erträgliche Absätze verfasst hatte. Ich überbrachte sie dem Maer zu seiner freien Verfügung.
Am darauffolgenden Tag saß mir das Herz wie ein Stein in der Brust. Ich wollte ein Lied fertigstellen, das ich für den Maer geschrieben hatte, brachte aber nichts Gescheites zustande. Zuerst klangen die Noten, die ich spielte, bleiern und leblos, dann regelrecht misstönend. Ich zwang mich weiterzuspielen, bis meine Laute nur noch klirrende Geräusche von sich gab, wie ein Messer, das gegen die Zähne schlägt.
Endlich ließ ich das arme Instrument ruhen. Mir war eingefallen, was mein Vater vor langer Zeit gesagt hatte: »Lieder wählen sich ihre Zeit und Stunde. Wenn deine Melodie nicht klingt, hat das einen Grund. Eine Melodie entspringt aus dem Herzen, aber aus einem trüben Brunnen kann man kein klares Wasser schöpfen. Warte, bis der Schlamm sich gesetzt hat, sonst klingst du stumpf wie eine zerbrochene Glocke.«
Ich wusste, dass er recht hatte, und legte die Laute in den Kasten. Ich brauchte einige Tage Pause, bevor ich weiter im Auftrag des Maer um Meluan freien konnte. Man konnte eine so heikle Arbeit nicht erzwingen oder ohne
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