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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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vielleicht noch grün hinter den Ohren, aber das kann er. Ein Schwert aus Kupfer, dass ich nicht lache.«
    »Aber ich würde Martens Geschichte gern zu Ende hören«, sagte ich.
    »Erzähl ruhig du«, sagte der alte Fährtenleser beleidigt. »Ich habe keine Lust mehr. Und ich höre lieber dir zu als dem Geschrei dieses Esels.«
    Die abendlichen Geschichten hatten zu den wenigen Gelegenheiten gehört, bei denen wir alle zusammensaßen, ohne uns gleich über irgendwelche Kleinigkeiten zu streiten. Jetzt schien nicht einmal mehr das zu gelten. Und die anderen erwarteten mehr und mehr von mir, dass ich sie am Abend unterhielt. Um dem gegenzusteuern, hatte ich mir sorgfältig überlegt, welche Geschichte ich an diesem Abend erzählen wollte.
    »In einem kleinen Städtchen wurde einst ein Junge geboren«, begann ich. »Alles an ihm war vollkommen, glaubte zumindest seine Mutter. Doch in einem unterschied er sich von anderen Kindern: in seinem Bauchnabel steckte eine goldene Schraube, von der nur der Kopf zu sehen war. Seine Mutter war vollkommen zufrieden damit, dass er alle Finger und Zehen hatte. Doch als der Junge heranwuchs, bemerkte er, dass nicht alle Kinder Schrauben im Bauchnabel hatten, schon gar nicht goldene. Er fragte seine Mutter, wozu die Schraube diente, aber sie wusste es nicht. Als Nächstes fragte er seinen Vater, aber der wusste es auch nicht. Dann fragte er seine Großeltern, die es auch nicht wussten.
    |778| Damit musste er sich vorerst zufrieden geben, doch die Frage beschäftigte ihn weiter. Zuletzt, als er alt genug war, packte er einige Dinge in einen Ranzen und machte sich auf die Suche nach jemandem, der die Frage beantworten konnte.
    Der Junge zog von Ort zu Ort und fragte alle, die behaupteten, irgendetwas zu wissen. Er fragte Hebammen und Physikusse, doch die wussten keine Antwort. Er fragte Arkanisten, Kessler und Einsiedler im Wald, doch niemand hatte je eine solche goldene Schraube gesehen.
    Auch die kealdischen Kaufleute fragte er. Wenn jemand sich mit Gold auskannte, dann sie, dachte er. Doch auch die kealdischen Kaufleute wussten keine Antwort. Er suchte die Arkanisten der Universität auf, die sich doch gewiss mit Schrauben und ihrer Verwendung auskannten, doch auch die Arkanisten konnten seine Frage nicht beantworten. Der Junge überquerte das Stormwall-Gebirge und befragte die Hexen von den Tahl, doch wieder vergeblich.
    Schließlich begab er sich zum König von Vint, dem reichsten König der Welt. Doch auch der König wusste keine Antwort. Der Junge ging zum Kaiser von Atur, aber selbst der Kaiser konnte ihm mit all seiner Macht nicht helfen. Dann besuchte er nacheinander die kleinen Königreiche, doch wieder war es dasselbe.
    Zuletzt begab es sich zum Hochkönig von Modeg, dem weisesten aller Herrscher. Der Hochkönig betrachtete den Kopf der goldenen Schraube, die aus dem Bauch des Jungen ragte, dann gab er seinem Seneschall ein Zeichen, worauf dieser ein Kissen aus goldener Seide brachte. Auf dem Kissen stand ein goldenes Kästchen. Der Hochkönig nahm einen goldenen Schlüssel von seinem Hals und öffnete das Kästchen. Darin lag ein goldener Schraubenzieher.
    Der Hochkönig nahm den Schraubenzieher und bedeutete dem Jungen, näher zu treten. Zitternd vor Aufregung gehorchte der Junge. Der Hochkönig hob den Schraubenzieher und steckte ihn in den Bauchnabel des Jungen.«
    Ich machte eine Pause und nahm einen ausführlichen Schluck Wasser. Die anderen hatten sich gespannt vorgebeugt.
    »Der Hochkönig drehte vorsichtig an der goldenen Schraube. Er drehte einmal, doch nichts geschah. Ein zweites Mal. Wieder |779| nichts. Dann drehte er ein drittes Mal, und der Hintern des Jungen fiel ab.«
    Auf meine Worte folgte entgeistertes Schweigen.
    »Wie bitte?«, fragte Hespe ungläubig.
    »Sein Hintern fiel ab«, wiederholte ich, ohne eine Miene zu verziehen.
    Es folgte ein langes Schweigen. Alle starrten mich unverwandt an. Im Feuer knackte ein Scheit, und ein roter Funkenregen stieg auf.
    »Und dann?«, fragte Hespe schließlich.
    »Nichts«, sagte ich. »Die Geschichte ist aus.«
    »Wie?«, fragte sie lauter. »Was für eine Geschichte ist das denn?«
    Ich wollte gerade etwas antworten, da platzte Tempi mit Lachen heraus. Er konnte nicht mehr aufhören und schüttelte sich am ganzen Körper, bis er keine Luft mehr bekam. Ich stimmte in sein Lachen ein, zum einen, weil es mich ansteckte, aber auch, weil ich die Geschichte schon immer besonders lustig fand.
    Hespe sah uns böse an, als

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