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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Dehnübungen. Wieder folgte ich seinem Beispiel. Diesmal fiel es mir noch schwerer. Die Muskeln meiner Arme und Beine waren noch vom letzten Mal schlaff und zittrig. Gegen Ende konnte ich das Zittern nur noch mühsam unterdrücken, doch hatte ich wieder einiges gelernt.
    Tempi beachtete mich weiterhin nicht, aber das war mir egal. Herausforderungen haben mich schon immer gereizt.

|773| Kapitel 83
Mit Blindheit geschlagen
    T aborlin wurde in ein Gefängnis tief unter der Erde gesperrt«, erzählte Marten. »Man hatte ihm nur die Kleider gelassen, die er am Leib trug, und einen flackernden Kerzenstummel gegen die Dunkelheit. Der Zauberkönig Scyphus wollte ihn dort schmachten lassen, bis Hunger und Durst seinen Willen brachen. Denn Scyphus wusste, wenn Taborlin erst versprach, ihm zu helfen, würde er das auch tun, denn er hielt immer Wort. Am schlimmsten war freilich, dass Scyphus Taborlin auch Zauberstab und Schwert weggenommen hatte, denn dadurch hatte er seine Kraft entscheidend geschwächt. Sogar den Mantel, der keine bestimmte Farbe hat, hatte er ihm abgenommen, aber …
ähm …
Entschuldigung …«
    Marten räusperte sich erneut. »Hespe, könntest du mir bitte den Wasserschlauch geben?«
    Hespe reichte ihm den Schlauch, und Marten nahm einen großen Schluck. »So geht es besser.« Er räusperte sich noch einmal. »Wo war ich stehen geblieben?«
    Wir zogen jetzt seit zwölf Tagen durch den Eld und hatten eine tägliche Routine entwickelt. Marten hatte die Konditionen unserer Wette unseren wachsenden Fähigkeiten angepasst, zunächst auf zehn zu eins und dann auf fünfzehn zu eins, dasselbe Verhältnis, das er mit Dedan und Hespe vereinbart hatte.
    Ich arbeitete mich nach und nach in die Gestensprache der Adem ein, und Tempi war nicht mehr das unbeschriebene Blatt, als das ich ihn kennengelernt hatte. Je besser ich seine Körpersprache beherrschte, desto mehr Farbe und Charakter nahm er auf einmal an.
    |774| Er war ein nachdenklicher, freundlicher Mensch. Mit Dedan kam er nicht zurecht. Er lachte gern, allerdings nur selten über meine Witze, während umgekehrt seine Witze in der Übersetzung nicht mehr verständlich waren.
    Ich will damit nicht sagen, dass zwischen uns nur eitel Sonnenschein geherrscht hätte. Gelegentlich kränkte ich Tempi durch Ausrutscher, die mir allerdings auch im Nachhinein unverständlich blieben. Ich machte täglich bei seinen seltsamen Tanzübungen mit, und er ignorierte mich dabei weiter.
    »Taborlin musste also fliehen«, fuhr Marten in seiner Geschichte fort. »Er sah sich in seinem Verlies um. Es hatte weder Tür noch Fenster. Um ihn herum war nur harter, glatter Stein. Doch Taborlin der Große kannte die Namen aller Dinge, deshalb mussten ihm alle Dinge gehorchen. Er befahl dem Stein, zu zerbrechen, und der Stein zerbrach, und die Wand riss auseinander wie ein Blatt Papier. Durch den Spalt sah Taborlin den Himmel. Tief atmete er die milde Frühlingsluft ein. Er verließ die Höhle und betrat die Burg. Zuletzt stand er vor der Tür des Königssaals. Sie war verriegelt, deshalb befahl er ihr, zu verbrennen, und die Tür ging in Flammen auf und verbrannte zu grauer Asche.
    Taborlin betrat den Saal, in dem König Scyphus inmitten von fünfzig Wachen saß. Der König befahl den Wachen, ihn zu ergreifen, doch die Wachen hatten gesehen, wie die Tür zu Asche verbrannt war. Sie kamen zwar näher, aber auch nicht zu nahe, wenn ihr versteht, was ich meine. ›Feiglinge‹, brüllte König Scyphus. ›Dann werde ich eben mit Hilfe meiner Zauberkraft gegen Taborlin kämpfen und ihn besiegen!‹ Auch er hatte Angst vor Taborlin, verbarg es aber gut. Außerdem hatte er noch seinen Zauberstab, Taborlin dagegen nicht.
    Da sagte Taborlin: ›Wenn du so mutig bist, gib mir meinen Zauberstab, bevor wir kämpfen.‹
    ›Gern‹, antwortete Scyphus, obwohl er ihm den Stab in Wirklichkeit gar nicht geben wollte. ›Er liegt in der Truhe neben dir.‹«
    Marten sah uns verschwörerisch an. »Ihr müsst aber wissen, dass die Truhe abgeschlossen war und nur Scyphus einen Schlüssel besaß. Und dieser Schlüssel steckte in seiner Tasche. Taborlin trat also zu der Truhe und fand sie abgeschlossen. Scyphus lachte und einige |775| Wachen mit ihm. Das aber erzürnte Taborlin. Zur Verblüffung der anderen schlug er mit der Hand auf den Deckel und rief
›Edro!‹
Die Truhe sprang auf, und Taborlin holte den Mantel, der keine bestimmte Farbe hat, heraus und schlug ihn sich um die Schultern.«
    Marten

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