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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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lachten wir über sie.
    Danach sprach Dedan. »Aber das verstehe ich nicht. Warum …?« Er verstummte.
    »Konnten sie den Hintern wieder anschrauben?«, fragte Hespe.
    Ich zuckte die Achseln. »Das gehört nicht mehr zur Geschichte.«
    Dedan hob ratlos die Hände. »Was soll die Geschichte dann?«
    Ich setzte eine Unschuldsmiene auf. »Ich dachte, wir erzählen uns einfach Geschichten.«
    Dedan musterte mich finster. »Aber richtige Geschichten! Geschichten mit einem Ende. Nicht Geschichten über den Hintern eines Jungen …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist doch albern. Ich gehe schlafen.« Er stand auf und entfernte sich. Hespe suchte ebenfalls ihren Schlafplatz auf.
    Ich lächelte. Die beiden würden mich gewiss nicht mehr so schnell bitten, eine Geschichte zu erzählen.
    Auch Tempi stand auf. Als er an mir vorbeikam, lächelte er. Dann beugte er sich plötzlich zu mir herunter und umarmte mich. Einige Tage davor wäre ich noch erschrocken, doch jetzt wusste ich, dass körperlicher Kontakt unter den Adem nichts Ungewöhnliches ist.
    Trotzdem war ich überrascht, dass er mich vor den anderen |780| umarmte. Ich erwiderte die Umarmung, so gut es ging, und spürte, das Tempis Brust immer noch vor Lachen bebte. »Der Hintern fiel ab«, sagte er leise und ging zu seinem Schlafplatz.
    Marten folgte ihm mit seinem Blick, dann sah er mich lang und nachdenklich an. »Woher hast du diese Geschichte?«, fragte er.
    »Mein Vater hat sie mir erzählt, als ich noch klein war«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    »Merkwürdige Geschichte für ein Kind.«
    »Ich war ein merkwürdiges Kind. Als ich älter war, gestand mein Vater mir, er habe sich die Geschichte nur ausgedacht, um mich zu beschäftigen. Ich pflegte ihn stundenlang mit Fragen zu löchern. Meinem Vater zufolge konnte man mich nur durch Rätsel ablenken. Aber ich knackte seine Rätsel wie Walnüsse, und zuletzt hatte er keine mehr.«
    Ich begann, meinen Schlafplatz herzurichten. »Also erfand er rätselhafte Geschichten und fragte mich nach ihrer Bedeutung.« Ich lächelte ein wenig wehmütig. »Ich weiß noch, dass ich tagelang darüber nachdachte, was die Schraube im Bauchnabel des Jungen zu bedeuten hatte.«
    Marten runzelte die Stirn. »Geht man so mit einem Kind um?«
    Ich hob überrascht den Kopf. »Warum?«
    »Ihm eine abstruse Geschichte zu erzählen, nur um seine Ruhe zu haben. Das ist ziemlich gemein.«
    Ich sah Marten verwirrt an. »Mein Vater wollte doch nicht gemein sein. Ich habe diese Geschichten geliebt. Sie gaben mir etwas zum Nachdenken.«
    »Aber die Geschichte mit der Schraube hat keine Lösung. Sie ist unsinnig.«
    »Nein«, protestierte ich. »Von den Fragen, die wir nicht beantworten können, lernen wir am meisten. Sie lehren uns das Denken. Wenn du jemandem eine Antwort gibst, weiß er danach lediglich ein wenig mehr. Wenn du ihm eine Frage stellst, beginnt er selbst nach Antworten zu suchen.«
    Ich breitete meine Decke auf dem Boden aus und legte den Mantel des Kesslers zurecht, in den ich mich einwickeln wollte. »Die Antworten, die er dann findet, werden ihm besonders viel bedeuten. Je |781| schwieriger die Frage ist, desto angestrengter suchen wir nach einer Antwort. Je angestrengter wir suchen, desto mehr lernen wir. Eine unlösbare Frage …«
    Ich verstummte unter dem Eindruck einer plötzlichen Erkenntnis. Genau das hatte Elodin uns lehren wollen. Sein ganzer Unterricht baute darauf auf. Seine Spiele, Hinweise und dunklen Rätsel waren alle im Grunde Fragen gewesen.
    Marten entfernte sich kopfschüttelnd, doch ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich es kaum bemerkte. Ich hatte nach Antworten gesucht, und Elodin hatte mir diese Antworten geben wollen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Was ich für böswillige Heimlichtuerei gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Versuch gewesen, mir bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen. Stumm und wie betäubt saß ich da. Wie hatte ich das nicht verstehen können? Ich war blind gewesen.

|782| Kapitel 84
Auf keiner Karte
    S chritt für Schritt arbeiteten wir uns weiter durch den Wald. Täglich hofften wir aufs Neue, Spuren eines Weges zu finden, und jeder Tag endete mit der gleichen Enttäuschung.
    Von dem Schwung, der uns zu Anfang angetrieben hatte, war nichts mehr zu spüren. Die Stimmung unter uns verschlechterte sich, und kleinliches Gezänk machte sich breit. Dedans Respekt vor mir war auf einige letzte Reste geschrumpft, und er forderte mich ständig heraus. Er wollte etwa vom Geld

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