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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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An-Blatt ist, dass es die Berührung durch den Menschen nicht erträgt. Berührst du es mit der Haut, verfärbt sich der entsprechende Teil innerhalb weniger Stunden rot wie Herbstlaub. Oder noch röter. So rot wie deine Kleider.« Marten zeigte auf Tempi. »Anschließend verdorrt die ganze Pflanze und geht ein.«
    »Wirklich?« Ich brauchte nicht länger Interesse zu heucheln.
    Marten nickte. »Ein Tropfen Schweiß bewirkt dasselbe. Meist genügt deshalb schon die Berührung menschlicher Kleider. Oder einer Rüstung oder eines Stocks, den ein Mensch in der Hand gehalten hat.« Er zeigte auf Tempis Hüfte. »Oder auch eines Schwerts. Manche |785| behaupten sogar, man brauche die Pflanze nur anzuhauchen. Ob das stimmt, weiß ich allerdings nicht.«
    Marten führte uns ein paar Schritte von dem An-Blatt weg. »Wir befinden uns hier in einer besonders einsamen Gegend. In der Nähe menschlicher Siedlungen begegnet man dem An-Blatt nicht. Diese Gegend ist praktisch auf keiner Karte verzeichnet.«
    »Auf unserer sehr wohl«, erwiderte ich. »Wir wissen genau, wo wir sind.«
    Marten schnaubte. »Karten haben nicht nur äußere Grenzen, sondern auch innere. Löcher. Die Menschen tun immer so, als wüssten sie alles, vor allem die reichen. Entsprechend gehen sie mit Karten um. Auf der einen Seite einer bestimmten Linie liegen die Felder von Baron Gierschlund, auf der anderen die von Graf Raffzahn.«
    Marten spuckte aus. »Karten dürfen für sie keine leeren Stellen enthalten. Deshalb wird eine Fläche etwa grün gefärbt und mit ›Eld‹ beschriftet.« Er schüttelte den Kopf. »Genauso nützlich wäre es, an der Stelle ein Loch in die Karte zu brennen. Der Wald, in dem wir uns befinden, ist so groß wie ganz Vintas. Er gehört niemandem. Wer hier in die falsche Richtung abbiegt, kann hundert Meilen gehen, ohne auf eine Straße zu treffen, von einem Haus oder Acker ganz zu schweigen. Es gibt hier Orte, die noch nie eines Menschen Fuß betreten hat.«
    Ich sah mich um. »Aber der Wald sieht genauso aus wie andere Wälder, in denen ich schon war.«
    »Ein Wolf sieht auch wie ein Hund aus«, erwiderte Marten. »Er ist aber keiner. Ein Hund ist …« Er brach ab. »Wie nennt man Tiere, die ständig mit den Menschen zusammen leben? Also Kühe und Schafe und so weiter?«
    »Domestiziert?«
    Marten nickte. »Genau. Und auf einem Bauernhof oder in einem Garten findet man domestizierte Pflanzen. Auch die meisten Wälder werden vom Menschen genützt. Die Menschen sammeln Pilze und Brennholz oder machen einen Spaziergang mit ihren Liebsten.«
    Er schüttelte den Kopf und strich mit der Hand über die grobe Rinde eines Baums. Die Geste mutete seltsam behutsam, fast liebevoll an. »Dieser Wald ist anders. Er ist uralt und unberührt. Wir sind |786| ihm vollkommen egal. Wenn die Banditen uns hier töten, brauchen sie uns nicht einmal zu begraben. Wir liegen einfach hundert Jahre lang da, ohne dass uns jemand findet.«
    Ich drehte mich langsam um mich selbst und ließ den Blick über verwitterte Felsen und unzählige Bäume schweifen. Der Maer hatte mich in den Eld geschickt wie einen Stein, den man auf einem Tak-Brett verschiebt. Ich wollte gar nicht daran denken. Er hatte mich zu einem Loch in der Karte geschickt, an einen Ort, an dem niemand meine Gebeine finden würde.

|787| Kapitel 85
Zwischenspiel: Zäune
    K vothe richtete sich auf seinem Stuhl auf und streckte den Hals, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Er hob gerade die Hand für den Chronisten, als sie vom hölzernen Treppenabsatz draußen ein rasches, leichtes, tappendes Geräusch hörten, das zu schnell und leise für die schweren Stiefel eines Bauern war, gefolgt vom hellen Lachen eines Kindes.
    Der Chronist deckte rasch den letzten Bogen Papier zu und steckte ihn unter einen Stapel leerer Blätter. Kvothe stand auf und ging zum Tresen. Bast lehnte sich zurück und kippelte mit dem Stuhl.
    Da ging die Tür auf, und ein hoch gewachsener junger Mann mit breiten Schultern und schütterem Bart trat ein. Vor sich her schob er behutsam ein blondes Mädchen. Hinter ihm folgte eine junge Frau, auf deren Arm ein kleiner, noch nicht dem Säuglingsalter entwachsener Junge saß.
    Kvothe hob lächelnd die Hand. »Mary! Hap!«
    Das junge Paar besprach sich kurz, dann ging Hap zum Tisch des Chronisten. Das Mädchen schob er wieder fürsorglich vor sich her. Bast stand auf und bot Hap seinen Stuhl an.
    Mary trat an den Tresen und machte nebenbei die Hände des kleinen Jungen von

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