Die Furcht des Weisen / Band 1
herablassenden Ton an«, sagte ich und richtete das Messer auf ihn. »Tu’s nicht.«
Er blinzelte. »Ist ja gut. Fällt dir eine Lösung für dieses Problem ein?«
»Natürlich. Ich brauche eine Art moralischen Prüfstein. Du musst mein moralischer Kompass sein, denn deine Hemmungen sind ja noch intakt.«
»Das wollte ich dir auch gerade vorschlagen«, sagte er. »Also vertraust du mir?«
Ich nickte. »Außer wenn es um Frauen geht. Was Frauen angeht, bis du ein Vollidiot.« Ich nahm mir ein Glas Wasser von einem Tisch, spülte mir damit den Mund aus und spuckte es auf den Boden.
Sim lächelte zweifelnd. »Also gut. Erstens: Du darfst Ambrose nicht umbringen.«
|108| Ich zögerte. »Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher. So ziemlich alles, was du mit diesem Messer tun könntest, wäre eine schlechte Idee. Du solltest es mir geben.«
Ich zuckte die Achseln und reichte es ihm, mit dem Ledergriff voran.
Sim wirkte erstaunt, ergriff aber das Messer. »Grundgütiger Tehlu«, sagte er mit tiefem Seufzer und legte das Messer aufs Bett. »Danke.«
»War das ein Extremfall?«, fragte ich und spülte mir noch einmal den Mund aus. »Wir sollten wahrscheinlich so eine Art Rangliste einführen. Von eins bis zehn.«
»Wasser auf meinen Boden spucken ist eine Eins«, erwiderte er.
»Oh«, sagte ich. »Tschuldigung.« Ich stellte das Glas auf seinen Tisch zurück.
»Macht nichts«, sagte er leichthin.
»Ist Eins hoch oder niedrig?«, fragte ich.
»Niedrig«, sagte er. »Ambrose umzubringen wäre eine Zehn.« Er zögerte. »Na ja, vielleicht auch nur eine Acht.« Er rutschte ein wenig hin und her. »Oder eine Sieben.«
»Echt?«, sagte ich. »So hoch? Also gut, dann nicht.« Ich beugte mich auf meinem Sitz vor. »Du musst mir ein paar Tipps für die Prüfung geben. Ich muss mich jetzt gleich wieder anstellen.«
Simmon schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Das wäre eine ganz schlechte Idee. Eine Acht.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich«, sagte er. »Das ist eine sehr heikle gesellschaftliche Situation. Da kann viel schiefgehen.«
»Aber wenn ich –«
Sim seufzte und strich sich das rotblonde Haar aus den Augen. »Bin ich nun dein Prüfstein oder nicht? Das wird sehr mühsam, wenn ich dir alles dreimal sagen muss, bis du mal auf mich hörst.«
Ich überlegte kurz. »Du hast recht. Zumal, wenn ich kurz davor stehe, etwas zu tun, das möglicherweise gefährlich wäre.« Ich sah mich um. »Wie lange wird das andauern?«
»Höchstens acht Stunden.« Er öffnete den Mund, um fortzufahren, und schloss ihn gleich wieder.
»Was?«, fragte ich.
|109| Sim seufzte. »Es könnte Nebenwirkungen geben. Die Substanz ist fettlöslich, wird also eine Zeit lang in deinem Körper verbleiben. Du könntest gelegentlich kleinere Rückfälle erleiden, hervorgerufen durch Stress, starke Gefühle, Anstrengungen …« Er sah mich bedauernd an. »Das wäre wie ein Nachhall hiervon.«
»Darüber kann ich mir später Sorgen machen«, sagte ich und streckte eine Hand aus. »Gib mir dein Terminplättchen. Du kannst jetzt zur Prüfung gehen. Ich nehme dann deinen Termin.«
Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Ich war doch schon zur Prüfung«, sagte er.
»Tehlus Krätze und Gekröse!«, fluchte ich. »Also gut. Hol Fela her.«
Er winkte mit beiden Händen ab. »Nein. Nein, nein, nein. Das wäre eine Zehn.«
Ich lachte. »Nicht deswegen. Sie hat einen späten Termin am Cendling.«
»Und du meinst, sie tauscht mit dir?«
»Sie hat es mir schon angeboten.«
Sim stand auf. »Ich geh sie suchen.«
»Und ich bleibe hier«, sagte ich.
Sim nickte und sah sich nervös im Zimmer um. »Es wäre wahrscheinlich am besten, wenn du gar nichts tun würdest, während ich weg bin«, sagte er und öffnete die Tür. »Einfach nur auf den Händen dasitzen und nichts tun, bis ich wiederkomme.«
Sim blieb nur fünf Minuten fort, und das war wahrscheinlich gut so.
Es klopfte an der Tür. »Ich bin’s!«, drang Sims Stimme herein. »Ist alles in Ordnung da drin?«
»Weißt du, was seltsam ist?«, sagte ich durch die Tür hindurch. »Ich habe überlegt, was ich in deiner Abwesenheit Witziges anstellen könnte, aber mir ist nichts eingefallen.« Ich blickte mich im Zimmer um. »Ich glaube, das bedeutet, dass Humor auf gesellschaftlicher Grenzüberschreitung beruht. Ich kann aber keine Grenzen mehr überschreiten, weil mir nicht klar ist, was gesellschaftlich unzulässig wäre. Mir erscheint irgendwie alles zulässig.«
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