Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
Hirn nach Antworten zu kramen, und schlagartig ließ das Schwindelgefühl nach.
    Sim beobachtete mich aufmerksam. »Wenn ich bloß wüsste, was das jetzt zu bedeuten hatte«, sagte er.
    »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Fela sehr leise.
    Ich zog das Terminplättchen aus Elfenbein aus meinem Geldbeutel. »Ich wollte nur tauschen«, sagte ich. »Es sei denn, du wärst bereit, dich mir nackt zu zeigen.« Ich wog meinen Geldbeutel in der anderen Hand und sah Fela in die Augen. »Sim sagt, das wäre schlimm, aber er ist, was Frauen angeht, ein absoluter Vollidiot. Ich mag ja im Augenblick nicht ganz richtig im Kopf sein, aber das weiß ich noch genau.«

    Es dauerte vier Stunden, bis meine Hemmungen allmählich wiederkehrten, und dann noch einmal zwei Stunden, bis der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt war. Simmon blieb den ganzen Tag lang bei mir, bewies eine Engelsgeduld und sagte ständig Sachen wie: Nein, du solltest jetzt nicht eine Flasche Schnaps für uns kaufen gehen. |115| Nein, du solltest nicht rausgehen und dem Hund, der unten auf der Straße kläfft, ein paar Tritte verpassen. Nein, du solltest nicht nach Imre gehen und nach Denna suchen. Nein, nein, dreimal nein.
    Bei Sonnenuntergang war ich schließlich wieder ein halbwegs moralisch intakter Mensch. Simmon befragte mich ausführlich, ehe er mich zurück auf mein Zimmer im ANKER’S brachte. Dort ließ er mich bei der Milch meiner Mutter schwören, dass ich den Raum nicht vor dem Morgen verlassen würde. Und ich schwor es.
    Doch alles war noch nicht wieder in Ordnung mit mir. Meine Emotionen kochten immer noch bei der kleinsten Kleinigkeit hoch. Und was noch schlimmer war: Mein Gedächtnis war nicht einfach nur zu seinem Normalzustand zurückgekehrt, sondern arbeitete auf einmal vollkommen unkontrolliert und auf Hochtouren.
    Solange ich bei Simmon gewesen war, war das noch nicht so ins Gewicht gefallen. Er hatte mich auf angenehme Weise abgelenkt. Doch ganz allein in meiner Dachkammer im ANKER’S war ich meinem Gedächtnis auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es war, als wäre mein Geist wild entschlossen, alles, was ich an Schmerzlichem je gesehen hatte, wieder hervorzuholen und mir vor Augen zu führen.
    Man sollte ja glauben, dass meine schlimmsten Erinnerungen die an die Ermordung meiner Truppe waren. Wie ich damals ins Lager zurückkam und dort alles in Flammen stand. Die widernatürlichen Gestalten, welche die toten Körper meiner Eltern im Zwielicht abgaben. Der Gestank von angesengter Zeltleinwand, Blut und verbranntem Haar. Die Erinnerungen an diejenigen, die sie ermordet hatten. An die Chandrian. An den Mann, der zu mir sprach und dabei die ganze Zeit grinste. Die Erinnerungen an Cinder.
    Das waren tatsächlich schlimme Erinnerungen, aber ich hatte sie im Laufe der Jahre so oft hervorgeholt und von allen Seiten betrachtet, dass sie ihre brennende Schärfe fast verloren hatten. Ich erinnerte mich an den Klang von Haliax’ Stimme so klar und deutlich wie an den Klang der Stimme meines Vaters. Cinders Gesicht vermochte ich mit Leichtigkeit vor meinem geistigen Auge erstehen zu lassen. Sein makelloses, grinsendes Gebiss. Sein weißes, lockiges Haar. Seine Augen, schwarz wie Tintentropfen. Seine Stimme, voller |116| Winterkälte, als er sagte:
Die Eltern von irgendwem haben die falschen Lieder gesungen
.
    Man sollte glauben, dass dies meine schlimmsten Erinnerungen waren. Doch da würde man sich irren.
    Nein: Die schlimmsten Erinnerungen waren die aus meiner frühen Kindheit. Das gemächliche Dahinzockeln, wenn ich im Wagen mitfuhr und mein Vater die Zügel locker ließ. Seine starken Hände auf meinen Schultern, als er mir zeigte, wie ich auf der Bühne zu stehen hatte, damit mein Körper
stolz
,
traurig
oder
schüchtern
aussagte. Seine Finger, die meine auf den Saiten seiner Laute zurechtrückten.
    Meine Mutter, wie sie mir durchs Haar strich. Das Gefühl, wie sie mich in den Armen hielt. Wie perfekt mein Kopf in ihre Halsbeuge passte. Wie ich abends zusammengerollt auf ihrem Schoß am Lagerfeuer saß, schläfrig, glücklich und geborgen.
    Das waren die schlimmsten Erinnerungen. Sie waren kostbar und rein. Und sie waren so scharf wie ein Mund voll Glassplitter. Ich lag im Bett, bebend und verkrampft, konnte nicht einschlafen, konnte an nichts anderes denken, konnte nicht aufhören, mich daran zu erinnern. Und es nahm einfach kein Ende.
    Dann klopfte es ganz leise an mein Fenster – so leise, dass ich es erst bemerkte, als es wieder

Weitere Kostenlose Bücher