Die Furcht des Weisen / Band 1
und so standen wir auf dem Flur und warteten auf Elodin.
Wir erzählten einander von unseren Bücherjagden und stellten Vermutungen an, weshalb Elodin ausgerechnet diese Werke für lesenswert erachtete. Fela, die seit Jahren nebenher in der Bibliothek arbeitete, hatte nur siebzehn Titel ausfindig machen können. Keiner |183| von uns hatte
En Temerant Voistra
gefunden oder es auch nur irgendwo erwähnt gesehen.
Als es zwölf schlug, war Elodin noch nicht da, und um Viertel nach zwölf hatte ich es satt, auf dem Flur herumzustehen, und versuchte die Tür zum Hörsaal zu öffnen. Erst wollte sich die Klinke nicht bewegen, doch als ich entnervt daran rüttelte, sprang das Schloss auf, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit.
»Ich dachte, sie wäre abgeschlossen«, sagte Inysaa und runzelte die Stirn.
»Hat nur geklemmt«, sagte ich und öffnete die Tür vollends.
Wir betraten den leeren Saal und gingen die Treppe zur ersten Sitzreihe hinab. An der großen Wandtafel vor uns stand in Elodins seltsam reinlicher Handschrift ein einziges Wort: »Erörterung!«
Wir setzten uns und warteten, doch Elodin ließ sich nicht blicken. Wir starrten an die Tafel, guckten einander an, wussten nicht, was nun von uns erwartet wurde.
Den Gesichtern der anderen war anzusehen, dass ich nicht als Einziger verärgert war. Ich hatte fünfzig Stunden darauf verwandt, Elodins vollkommen nutzlose Bücher aufzustöbern. Ich hatte meinen Teil getan. Warum tat er seinen nicht?
Wir sieben warteten noch zwei Stunden und plauderten dabei ein wenig.
Doch Elodin kam nicht.
|184| Kapitel 14
Die verborgene Stadt
D ie vielen Stunden, die ich mit der Jagd nach Elodins Büchern vergeudet hatte, ärgerten mich zwar sehr, doch immerhin ging ich aus dieser Erfahrung mit soliden Kenntnissen über den Aufbau der Uni-Bibliothek hervor. Die wichtigste Erkenntnis, die ich dabei gewann, war die, dass es sich dabei nicht einfach nur um ein Lagerhaus für Bücher handelte. Die Bibliothek war vielmehr gewissermaßen eine Stadt für sich – mit ihren eigenen Straßen, Gassen und Schleichwegen.
Genau wie in einer Stadt wimmelte es in bestimmten Teilen der Bibliothek nur so von Menschen. Im Skriptorium standen Pulte aufgereiht, an denen Übersetzer ihrer schwierigen Tätigkeit nachgingen und Schreiber verblassende Texte mit frischer Tinte in neue Bücher übertrugen. Auch im Sortiersaal, wo Bibliothekare die Bücher fürs Zurückstellen in die Regale vorsortierten, herrschte geschäftiges Treiben.
Die sogenannte »Wanzenkammer« war der Ort, an dem neue Bücher vor ihrer Aufnahme in die Sammlung dekontaminiert wurden. Alle möglichen Tierchen haben Bücher offenbar zum Fressen gern. Manche verschlingen mit Vorliebe Pergament oder Leder, anderen steht der Sinn eher nach Papier oder Leim. Die gemeinhin bekannten Bücherwürmer sind dabei übrigens noch die kleinste Sorge, und nachdem ich mir ein paar von Wilems Geschichten angehört hatte, verspürte ich das dringende Bedürfnis, mir die Hände zu waschen.
Der Katalogsaal, die Buchbinderei und die Palimpsest-Abteilung: An all diesen Orten ging es zu wie in einem Taubenschlag.
|185| Andere Teile der Bibliothek jedoch boten ein ganz anderes Bild. Das Büro der Inkasso-Abteilung beispielsweise war klein und lag meist im Dunkeln. Durch ein Fenster konnte ich erkennen, dass eine ganze Wand mit einer riesigen, äußerst detaillierten Landkarte bedeckt war. Sie war mit einer alchemischen Klarlackschicht überzogen, und an vielen Stellen hatte man mit rotem Fettstift etwas darauf vermerkt: Gerüchte über den Standort besonders begehrter Bücher oder die letzten bekannten Positionen der einzelnen Inkasso-Trupps.
Der Präsenzbereich der Bibliothek glich einem Stadtpark. Allen Studenten stand es frei, dorthin zu kommen und die Bücher, die dort in den Regalen standen, zu lesen. Sie konnten bei den Bibliothekaren außerdem Bestellungen aufgeben, die daraufhin widerwillig ins Bibliotheksmagazin aufbrachen, um, wenn schon nicht genau das gewünschte Buch, so doch zumindest etwas Ähnliches zu finden.
Das Magazin aber nahm in der Bibliothek den weitaus größten Raum ein. Es war der Ort, an dem die Bücher wohnten. Und wie in jeder anderen Stadt gab es da gute und weniger gute Wohngegenden.
In den guten Gegenden war alles tipptopp organisiert. Dort führte einen ein Katalogeintrag schnurstracks zu dem gewünschten Titel.
Anders in den miesen Gegenden. Es waren Teile der Bibliothek, die halb vergessen waren, die man
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