Die Furcht des Weisen / Band 1
vernachlässigt hatte oder mit denen sich zu befassen so beschwerlich war, dass man es immer wieder aufschob. Dort waren die Bücher nach alten Katalogsystemen geordnet oder standen einfach nur wild durcheinander.
Da gab es Bücherwände, die wie Münder mit klaffenden Zahnlücken aussahen, nachdem Bibliothekare, die dort längst schon nicht mehr tätig waren, einen alten Katalog ausgeschlachtet hatten, um die einzelnen Titel in ein System zu bringen, das zum damaligen Zeitpunkt als modern galt. Dreißig Jahre zuvor hatten sich zwei ganze Etagen schlagartig von einer guten in eine schlechte Gegend verwandelt, als eine rivalisierende Bibliothekarsfraktion den kompletten Larkin-Katalog verbrannt hatte.
Und dann war da natürlich die Tür mit den vier Kupferplatten. Das große Geheimnis im Herzen der Stadt.
|186| Es war angenehm, in den guten Wohngegenden der Stadt spazieren zu gehen. Es war ein Vergnügen, dort nach einem Buch zu suchen und es genau an der Stelle zu finden, an der es stehen sollte. Das war einfach, war beruhigend und ging schnell.
Doch die miesen Gegenden waren richtig faszinierend. Die Bücher dort waren staubig und schon lange nicht mehr benutzt. Wenn man eins davon aufschlug, las man womöglich Worte, die seit Jahrhunderten kein menschliches Auge mehr erblickt hatte. Inmitten des Unrats lagerten dort wahre Schätze.
An diesen Orten suchte ich nach den Chandrian.
Ich suchte stundenlang, ich suchte tagelang. Dass ich die Wahrheit über die Chandrian zu Tage fördern wollte, war der Hauptgrund dafür gewesen, dass ich an die Universität gekommen war. Und jetzt, da ich endlich uneingeschränkten Zugang zur Bibliothek hatte, machte ich viel verlorene Zeit wett.
Doch obwohl ich viele, viele Stunden lang suchte, fand ich kaum etwas. Es gab einige Kinderbücher, in denen die Chandrian vorkamen und kleinere Schäden anrichteten, indem sie etwa einen Kuchen klauten oder Milch sauer werden ließen. In anderen feilschten sie wie die Dämonen in manchen moraltriefenden aturischen Dramen.
Über diese Geschichten verstreut, tauchten ein paar dünne Fakten auf, aber es war nichts dabei, das mir noch nicht bekannt war. Die Chandrian waren verflucht. Und bestimmte Zeichen zeigten ihre Gegenwart an: blaue Flammen, Rost und Zerfall, ein kalter Luftzug.
Meine Suche wurde noch dadurch erschwert, dass ich niemanden um Hilfe fragen konnte. Wenn sich herumgesprochen hätte, dass ich viel Zeit auf die Lektüre von Kinderbüchern verwandte, wäre das nicht eben förderlich für meinen Ruf gewesen.
Doch was noch wichtiger war: Zu den wenigen Dinge, die ich über die Chandrian wusste, zählte, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternahmen, um ihre schiere Existenz zu verschleiern. Sie hatten meine Truppe ermordet, weil mein Vater ein Lied über sie geschrieben hatte. In Trebon hatten sie eine ganze Hochzeitsgesellschaft ausgelöscht, weil einige Hochzeitsgäste auf einer alten Vase |187| Abbildungen von ihnen gesehen hatten. Von daher erschien es mir nicht allzu klug, über die Chandrian auch nur zu sprechen.
So stellte ich also meine eigenen Recherchen an. Nach ein paar Tagen gab ich die Hoffnung auf, etwas so Hilfreiches wie ein ganzes Buch über sie zu finden oder gar etwas so Substanzielles wie eine Monographie. Dennoch las ich weiter und hoffte, irgendwo auf Bruchstücke der Wahrheit zu stoßen. Eine einzige Tatsache nur. Eine Andeutung. Irgendwas.
Aber Kinderbücher sind meist nicht sehr reich an Details, und die wenigen Details, die ich fand, waren offenkundig der Phantasie entsprungen. Wo lebten die Chandrian? Über den Wolken. In einem Traumland. In einem Schloss aus Süßigkeiten. Was waren die Zeichen für ihre Gegenwart? Donner. Die Verfinsterung des Mondes. In einer Geschichte war sogar von Regenbogen die Rede. Wer schrieb so etwas? Wie konnte man Kindern Angst vor Regenbogen einflößen?
Namen waren einfacher zu erlangen, aber sie waren offensichtlich alle aus anderen Quellen abgekupfert. Fast alle waren Namen von Dämonen, die im
Buch des Weges
erwähnt wurden, oder stammten aus irgendwelchen Theaterstücken, vor allem aus
Daeonica
. In einer Geschichte, die auf geradezu peinliche Weise allegorisch war, waren die Chandrian nach sieben wohlbekannten Kaisern aus der Zeit des Aturischen Reichs benannt. Das rang mir immerhin ein kurzes, bitteres Lachen ab.
Schließlich entdeckte ich in den Tiefen des toten Verzeichnisses einen schlanken Band mit dem Titel
Das Buch der Geheimnisse
. Es war ein
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