Die Furcht des Weisen / Band 1
einige öffentliche Parkanlagen. Die meisten Bäume hatten ihr Laub schon abgeworfen. Ich schaute bei sämtlichen Musikinstrumentengeschäften hinein, die ich finden konnte, sah mir die Lauten an, die man auf Lager hatte, und erkundigte mich, ob eine schöne, dunkelhaarige Frau gesehen worden sei, die sich für Harfen interessierte. Dem war nicht so.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich ging noch einmal ins EOLIAN und schlenderte langsam durchs Publikum. Denna war immer noch nirgends zu sehen, aber ich traf Graf Threpe. Wir tranken etwas miteinander und lauschten einigen Liedern, bevor ich wieder ging.
Ich zog den Umhang fester um mich, als ich mich auf den Rückweg zur Universität machte. Auf den Straßen von Imre war nun viel mehr los als tagsüber, und trotz der abendlichen Kühle lag eine festliche Stimmung in der Luft. Musik unterschiedlichsten Stils drang aus den Eingängen der Wirtshäuser und Theater. Menschen strömten in die Restaurants und Ausstellungssäle.
Da hörte ich inmitten des Stimmengewirrs ein hohes, klares Lachen. Dieses Lachen hätte ich überall wiedererkannt. Es war Dennas Lachen. Ich kannte es so gut wie meine Handrücken.
Ich wandte mich um und spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breitmachte. Es war immer so. Erst dann schien ich sie finden zu können, wenn ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte.
Nun ließ ich den Blick über die Gesichter schweifen und entdeckte |196| sie mit Leichtigkeit. Denna stand am Eingang eines kleinen Cafés. Sie trug ein langes Kleid aus dunkelblauem Samt.
Ich machte einen Schritt auf sie zu und blieb abrupt stehen. Ich sah, dass sie mit jemandem sprach, der hinter der offenen Tür einer Kutsche stand. Das Einzige, was ich von ihm sehen konnte, war sein Hinterkopf. Er trug einen Hut mit einer großen weißen Feder.
Kurz darauf schloss Ambrose den Wagenschlag. Er warf ihr ein reizendes Lächeln zu und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Lampenschein glitzerte auf dem Goldbrokat seiner Jacke, und seine Handschuhe waren im selben, königlichen Purpurton gefärbt wie seine Stiefel. Die Farbe hätte an ihm eigentlich grell wirken müssen, tat es aber nicht.
Als ich dort so stand und starrte, wäre ich um ein Haar von einem vorbeifahrenden Pferdekarren erfasst worden, was ganz allein meine Schuld gewesen wäre, denn schließlich stand ich mitten auf der Straße. Der Kutscher fluchte und schlug mit seiner Peitsche nach mir. Der Hieb traf mich im Nacken, aber ich spürte ihn kaum.
Gerade noch rechtzeitig fand ich mein Gleichgewicht wieder, um zu sehen, wie Ambrose Denna die Hand küsste. Dann bot er ihr mit einer anmutigen Geste seinen Arm, und sie gingen gemeinsam in das Café.
|197| Kapitel 16
Unausgesprochene Furcht
N achdem ich Denna mit Ambrose in Imre gesehen hatte, verfiel ich in eine düstere Stimmung. Auf dem Rückweg zur Universität gingen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Tat Ambrose das aus reiner Boshaftigkeit? Wie war es dazu gekommen? Was dachte sich Denna dabei?
Nach einer weitgehend schlaflosen Nacht versuchte ich nicht mehr daran zu denken. Stattdessen vergrub ich mich in der Uni-Bibliothek. Bücher sind ein schlechter, aber leicht verfügbarer Ersatz für weibliche Gesellschaft. Ich tröstete mich damit, dass ich in den dunklen Winkeln der Bibliothek nach Informationen über die Chandrian suchte. Ich las, bis mir die Augen brannten und sich mein Kopf überfüllt anfühlte.
Fast eine Spanne lang tat ich kaum etwas anderes als meine Seminare zu besuchen und in der Bibliothek zu stöbern. Meine Mühen wurden damit belohnt, dass ich viel, viel Staub einatmete, von der stundenlangen Lektüre bei schummrigem Sympathielampenschein chronische Kopfschmerzen bekam und mir von der gebeugten Haltung über dem niedrigen Tisch einen völlig verspannten Nacken einhandelte.
Und tatsächlich stieß ich auf eine einzige Erwähnung der Chandrian. Sie fand sich in einem handschriftlich abgefassten Oktavband mit dem Titel
Gesammelte Merckwürdigkeiten des Volks-Glaubens
. Dieses Buch war schätzungsweise zweihundert Jahre alt.
Es handelte sich um eine Sammlung von Geschichten und abergläubischen Vorstellungen, die ein Amateur-Historiker in Vintas zusammengetragen hatte. Im Gegensatz zu dem Werk
Das Paarungsverhalten
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des Gemeinen Draccus
unternahm es nicht den Versuch, die darin geschilderten Auffassungen zu belegen oder zu widerlegen. Der Verfasser hatte diese Geschichten einfach nur gesammelt und an einigen
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