Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
die Einzelheiten zu erinnern, kam es mir fast vor, als hätte das alles jemand anderes erlebt. »Das ist durchaus denkbar.«
»Es ist mehr als nur denkbar«, versicherte er mir. »Ich bezweifle sehr, dass sich ein so altes und mächtiges Wesen wie Felurian mit weiter nichts als dem Wind unterwerfen ließe. Ich will deine Leistung damit keineswegs schmälern«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Den Wind herbeizurufen, das schafft allenfalls einer von tausend Studenten. Aber den Namen eines Lebewesens zu rufen, und dann auch noch eines Lebewesens aus dem Reich der Fae …« Er sah mich mit erhobener Augenbraue an. »Das ist noch einmal etwas ganz anderes.«
»Und wieso ist der Name einer Person so etwas Besonderes?«, fragte ich und beantwortete es mir dann selbst: »Die Komplexität.«
»Genau«, sagte er. Mein Verständnis schien ihn zu begeistern. »Um etwas bei seinem Namen zu rufen, muss man es vollkommen verstehen. Ein Stein oder ein bestimmter Wind sind da schon schwierig genug. Aber eine Person …«
»Ich könnte nicht behaupten, dass ich Felurian verstanden hätte«, sagte ich.
»Etwas in dir hat sie verstanden«, beharrte er. »Dein schlummernder Geist. Das ist etwas sehr Seltenes. Wenn dir bewusst gewesen wäre, wie schwierig es ist, hättest du es niemals geschafft.«
Da mich kein Geldmangel mehr zwang, Akkordarbeit im Handwerkszentrum zu leisten, stand es mir frei, breiter gefächert zu studieren als zuvor. Ich nahm meine Seminare in Sympathie, Medizin und magischer Handwerkskunst wieder auf und schrieb mich zusätzlichin Chemie, Pflanzenkunde und Vergleichender weiblicher Anatomie ein.
Die Begegnung mit der Lockless-Kassette hatte meine Neugier angestachelt, und ich versuchte, etwas über die Geschichtenknoten der Yller zu erfahren. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass die meisten Bücher zum Thema Yll keine sprachkundlichen Werke waren, sondern historische, die keinerlei Aufschluss darüber boten, wie diese Knoten zu entziffern waren.
Daher suchte ich das tote Verzeichnis danach ab und stieß schließlich in einer jener unangenehm niedrigen Abteilungen in den unteren Untergeschossen auf ein einzelnes Regalfach voller ausgemusterter Bücher zum Thema Yll. Als ich nach einer Stelle suchte, an der ich mich hinsetzen und lesen konnte, entdeckte ich hinter einem Regal einen kleinen Raum.
Es war kein Lesezimmer, wie ich angenommen hatte. Vielmehr standen darin Hunderte große Holzspulen, die mit geknoteten Schnüren umwickelt waren. Es waren gewissermaßen yllische Bücher. Auf all dem lag eine dünne Staubschicht, und ich nahm an, dass seit Jahrzehnten niemand mehr diesen Raum betreten hatte.
Ich habe eine große Schwäche für Geheimnisse. Schnell aber stellte ich fest, dass es unmöglich war, diese Knoten zu entziffern, wenn man kein Yllisch konnte. Zu dieser Sprache wurden keine Kurse angeboten, und als ich mich ein wenig umhörte, erfuhr ich, dass keiner der Giller des Meisters der Sprachkunde mehr als nur ein paar Brocken davon beherrschte.
Wenn man bedachte, dass Yll unter den Stiefeln des Aturischen Reichs beinah zu Staub zermalmt worden war, war das nicht weiter verwunderlich. Was von dem Land noch übrig war, wurde heutzutage größtenteils von Schafen bevölkert, und von seiner Landesmitte aus waren sämtliche Grenzen nur einen Steinwurf entfernt. Es war dennoch ein enttäuschender Abschluss für meine Recherchen.
Einige Tage darauf ließ mich der Meister der Sprachkunde in sein Büro rufen. Er hatte gehört, dass ich Erkundigungen angestellt hatte, und wie es sich traf, beherrschte er selbst das Yllische recht gut. Er bot an, mir Privatunterricht zu erteilen, und dieses Angebot nahm ich nur zu gern an.
Seit ich an die Universität gekommen war, hatte ich den Meister der Sprachkunde nur bei den Zulassungsprüfungen gesehen und wenn man mich aus disziplinarischen Gründen auf die Hörner genommen hatte. Dort war er stets der strenge, sich formell verhaltende Rektor gewesen. Wenn er jedoch nicht auf dem Stuhl des Rektors saß, war Meister Herma ein sehr guter und liebenswürdiger Lehrer. Er war geistreich und hatte einen erstaunlich respektlosen Sinn für Humor. Als er mir zum ersten Mal einen schmutzigen Witz erzählte, war ich sprachlos.
Elodin gab in diesem Trimester kein Seminar, aber ich begann privat bei ihm Namenskunde zu studieren. Und da ich nun wusste, dass sein Wahnsinn durchaus Methode hatte, kam ich viel besser mit ihm zurecht als zuvor.
Graf Threpe war außer
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