Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
meinen anderen Gefährten. Dedan, Hespe und Marten setzten die Reise nach Süden fort. Sie würden dem Maer Bericht erstatten und ihren Lohn einstreichen. Tempi und ich dagegen brachen nach Nordosten zum Stormwall-Gebirge und nach Ademre auf.
»Soll ich dem Maer wirklich nicht die Kassette bringen?«, fragte Dedan zum fünften Mal.
»Ich habe versprochen, dass ich sie ihm persönlich übergebe«, log ich. »Aber gib ihm bitte das für mich.« Ich reichte Dedan den Brief, den ich am Vorabend geschrieben hatte. »Ich schreibe darin, warum ich dich zum Anführer der Gruppe gemacht habe.« Ich grinste. »Vielleicht kannst du dafür ja etwas Extrageld herausschinden.«
Dedan nahm den Brief und straffte sich unwillkürlich.
Marten, der neben ihm stand, machte ein Geräusch, das man für Husten hätte halten können.
Unterwegs konnte ich von Tempi einige weitere Einzelheiten in Erfahrung bringen. So hörte ich etwa, dass es für einen Adem seines Ranges üblich war, um Erlaubnis zu fragen, bevor er einen Schüler unterrichtete.
Erschwerend kam in meinem Fall hinzu, dass ich ein Außenseiter, ein Barbar war. Indem er mich unterrichtete, hatte Tempi offenbar nicht nur gegen Sitte und Herkommen verstoßen, sondern das Vertrauen seines Lehrers und Volkes missbraucht.
»Wird es einen Prozess geben?«, fragte ich.
Tempi schüttelte den Kopf. »Nein. Shehyn wird mich befragen. Ich werde sagen: ›Ich habe in Kvothe gutes Eisen gefunden. Er ist offen für den Geist des Lethani. Er braucht Lethani zu seiner Führung.‹« Tempi nickte mir zu. »Shehyn wird dich nach dem Lethani fragen, um zu überprüfen, ob ich recht habe, und dann entscheiden, ob du ein würdiges Eisen bist.« Er beschrieb mit der Hand einen Kreis, die Geste für
Unbehagen.
»Und was passiert, wenn ich das nicht bin?«, fragte ich.
»Dir?«
Unsicherheit.
»Mir? Ich werde abgeschnitten.«
»Abgeschnitten?«, fragte ich und hoffte, dass ich ihn missverstanden hatte.
Tempi hob die fünf Finger seiner Hand. »Adem.« Er ballte die Hand zur Faust und schüttelte sie. »Ademre.« Dann öffnete er sie wieder und berührte den kleinen Finger. »Tempi.« Er berührte nacheinander die anderen Finger. »Freund, Bruder, Mutter.« Er berührte den Daumen. »Shehyn.« Dann machte er eine Bewegung, als trenne er den kleinen Finger ab. »Abgeschnitten«, sagte er.
Man würde ihn also nicht töten, sondern verbannen. Ich wollte schon aufatmen, da begegnete ich dem Blick seiner hellgrauen Augen. Seine vollkommen unbewegte Miene hatte für einen kurzen Moment einen Riss bekommen, und dahinter sah ich die Wahrheit. Der Tod war eine mildere Strafe als das Abgeschnittenwerden. Tempi hatte eine solch panische Angst davor, wie ich sie nur selten bei einem Menschen erlebt hatte.
Wir vereinbarten, dass ich mich für die Dauer der Reise nach Haert ganz in die Hände Tempis begeben sollte. In rund fünfzehn Tagen musste ich mich so gut wie möglich mit der Welt der Adem vertraut machen. Auf diese Weise würde ich, so hofften wir, einen guten Eindruck machen, wenn ich vor Tempis Lehrer stand.
Bevor wir an jenem ersten Tag anfingen, wies Tempi mich noch an, meinen Schattenmantel abzulegen. Widerstrebend gehorchte ich. Er ließ sich zu einem überraschend kleinen Päckchen zusammenfalten, das ohne Mühe in meinem Reisesack Platz fand.
Tempi gab ein mörderisches Tempo vor. Zuerst absolvierten wir die tanzähnlichen Dehnübungen, wie ich es ihn schon oft hatte tun sehen. Dann rannten wir eine Stunde lang im Dauerlauf, statt wie sonst zügig zu marschieren. Anschließend führten wir die Übungen des Ketan aus, und Tempi korrigierte meine unendlich vielen Fehler. Zum Abschluss gingen wir eine Meile.
Dann setzten wir uns und sprachen über Lethani. Erschwerend war, dass wir uns auf Ademisch unterhielten, doch fanden wir beide, dass ich möglichst tief in die Sprache eintauchen sollte, um mich bei meiner Ankunft in Haert wie ein zivilisierter Mensch ausdrücken zu können.
»Was ist Lethani?«, fragte Tempi.
»Ein Weg, dem wir folgen können?«
»Nein«, erwiderte Tempi streng. »Lethani ist kein Weg.«
»Was dann?«
»Es leitet uns in unserem Handeln. Wer dem Lethani folgt, handelt richtig.«
»Ist das nicht dasselbe wie ein Weg?«
»Nein. Lethani hilft uns, einen Weg zu wählen.«
Anschließend fingen wir wieder von vorne an: Auf den einstündigen Dauerlauf folgten Ketan, Marsch und Gespräch über Lethani. Wir brauchten dazu etwa zwei Stunden. Gleich nach Ende
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