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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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hatten. Mir fiel auf, dass seine Hände ein wenig zitterten.
    Shehyn führte uns zu einer offenen Tür, an der eine in kriegerisches Rot gekleidete Frau zu uns kam. Ich erkannte sie an den dünnen Narben an ihrer Augenbraue und ihrem Kinn. Es war dieselbe Frau, der wir auf dem Weg nach Severen begegnet waren und die mich mit der Hand zurückgestoßen hatte. Offenbar hieß sie Carceret.
    Shehyn winkte Tempi und die Frau nach drinnen, mir dagegen gebot sie mit erhobener Hand, draußen zu bleiben. »Warte hier. Was Tempi getan hat, ist nicht gut. Ich werde ihn anhören. Dann werde ich entscheiden, was mit euch geschehen soll.«
    Ich nickte, und Shehyn schloss die Tür hinter sich.

     
    Ich wartete eine Stunde, dann zwei. So angestrengt ich auch lauschte, durch die Tür drang kein Geräusch. Auf dem Flur gingen einige Leute an mir vorbei, zwei davon in Rot, ein dritter in einem schlichten, grauen Kittel. Sie alle sahen unwillkürlich meine Haare an, wandten den Blick aber sofort wieder ab.
    Statt zu lächeln und zu nickten, wie es unter Barbaren üblich gewesen wäre, verzog ich keine Miene, erwiderte die kleinen Gesten, mit denen sie mich grüßten, und mied ihren Blick.
    Nach über drei Stunden ging die Tür plötzlich auf, und Shehyn winkte mich herein.
    Das Zimmer hatte Wände aus glatt behauenen Steinen und war hell erleuchtet. Es war so groß wie ein geräumiges Schlafzimmer in einer Herberge, wirkte aber größer, weil nur wenig Möbel darin standen. Ein kleiner eiserner Ofen an der Wand strahlte eine sanfte Wärme aus, in der Mitte standen vier Stühle im Rund. Auf dreien saßen Tempi, Shehyn und Carceret. Auf eine Handbewegung von Shehyn hin setzte ich mich auf den vierten.
    »Wie viele Menschen hast du getötet?«, fragte Shehyn. Sie klang anders als zuvor, gebieterisch. Genauso hatte Tempi in unseren Gesprächen über Lethani gesprochen.
    »Viele«, antwortete ich, ohne zu zögern. Ich bin vielleicht manchmal etwas schwer von Begriff, aber wenn ich geprüft werden soll, spüre ich das sofort.
    »Was heißt viele?« Es war eine neue Frage, nicht die Aufforderung, meine Antwort zu verdeutlichen.
    »Wenn man tötet, ist einer viele.«
    Shehyn nickte kaum merklich. »Hast du dabei im Geist des Lethani gehandelt?«
    »Vielleicht.«
    »Warum antwortest du nicht mit Ja oder Nein?«
    »Weil ich nicht immer weiß, was Lethani ist.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil es mir nicht immer klar ist.«
    »Und was macht Lethani klar?«
    Ich zögerte, obwohl ich wusste, dass ich das eigentlich nicht durfte. »Die Worte eines Lehrers.«
    »Kann man Lethani lehren?«
    Ich wollte die Geste für
unsicher
machen, doch dann fiel mir ein, dass Gebärdensprache in dieser Situation unangemessen war. »Vielleicht«, sagte ich. »Ich kann es nicht.«
    Tempi bewegte sich auf seinem Stuhl. Die Befragung nahm keinen guten Anfang. Weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen, holte ich tief Luft, versuchte mich zu entspannen und versenkte mich in das Kreiselnde Blatt.
    »Wer kennt den Geist des Lethani?«, fragte Shehyn.
    »Das Blatt, das sich im Wind bewegt«, antwortete ich, ohne zu wissen, was ich damit meinte.
    »Woher kommt das Lethani?«
    »Vom selben Ort wie das Lachen.«
    Shehyn zögerte kurz. »Wie folgt man ihm?«
    »Wie folgt man dem Mond?«
    In den Gesprächen mit Tempi hatte ich gelernt, auf die verschiedenen Pausen einer Unterhaltung zu achten. Im Ademischen kann man mit Schweigen genauso viel sagen wie mit Worten. Es gibt bedeutungsvolle Pausen, Höflichkeitspausen, verwirrte Pausen, vielsagende Pausen, entschuldigende Pausen, Pausen, die etwas betonen …
    Die Pause, die auf meine Worte folgte, war wie eine plötzliche Lücke im Gespräch, wie der leere Raum der eingeatmeten Luft. Ich spürte, dass ich entweder etwas sehr Kluges oder etwas sehr Dummes gesagt hatte.
    Shehyn setzte sich ein wenig anders hin, und die förmliche Atmosphäre war auf einmal verschwunden. Ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt vorankamen, und tauchte wieder aus dem Kreiselnden Blatt auf.
    Shehyn sah Carceret an. »Was meinst du?«
    Carceret hatte bisher so ausdrucks- und bewegungslos dagesessen wie eine Statue. »Ich wiederhole, was ich schon gesagt habe. Tempi hat unser Vertrauen missbraucht. Er sollte abgeschnitten werden. Dafür haben wir unsere Gesetze. Ein Gesetz zu missachten hieße, es zu beseitigen.«
    »Dem Gesetz blind zu folgen hieße, ein Sklave zu sein«, warf Tempi rasch ein.
    Shehyn machte die Geste für
scharfen Tadel
, und

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