Die Gabe der Amazonen
wie sich ihr Körper straffte.
»Jetzt!«
Ich gehorchte, ohne zu zögern, wie ein folgsamer Büttel. Die Tür flog auf (Phex sei gepriesen, sie war tatsächlich nicht abgeschlossen!), Viburn und Mädchen huschten an mir vorbei, hinein in den gelben Fackelschein.
Den Degen in der Faust, stolperte ich hinter ihnen her. Vom plötzlichen Licht geblendet, versuchte ich, mir ein Bild von der Lage zu verschaffen. Ich sah einen Tisch mit zwei umgestürzten Hockern. Dort hatten offenbar dösend oder schlafend zwei Wächter gesessen. Beide lagen jetzt auf dem Boden. Auf der Brust des einen hockte Viburn. Er preßte sein Opfer mit dem Knie auf die Steinfliesen und drückte ihm die Dolchschneide gegen den Kehlkopf. Über dem anderen stand Mädchen, breitbeinig, ein wenig nach vorn gebeugt. Der Mann lag still auf dem Bauch, Kinn und Hals in einer schnell wachsenden Blutlache.
»Schnell!« zischte Viburn. »Wenn es dir nicht wie deinem Kumpan ergehen soll. Wo sind die Gefangenen?«
Der Mann öffnete die Lippen, brachte aber kein Wort heraus. Viburn lockerte den Druck der Klinge.
»Welche Gefangenen? Hier gibt es viele.«
»Wir suchen drei: einen Mann, eine Frau, einen Zwerg.«
»Ich, ich weiß nicht ... wo ...«
Mädchen trat zu ihm, stellte den Fuß auf sein Haar. Er stöhnte auf. »Laß mich mit ihm reden! Das dauert mir zu lange!«
Der Wächter riß die Augen auf, schielte zu Mädchen empor, las in ihrem Gesicht und begann zu zittern.
»Ja, ja, ja; ich weiß, wen ihr meint! Ich weiß es ja, ich weiß es ja!«
Viburn gab ihn frei, Mädchen riß ihn an den Haaren hoch, bohrte ihm die Dolchspitze hinter die Ohrmuschel. »Kein Laut! Nicht einmal deinen Atem will ich hören!«
Der Wächter nickte stumm.
Wir schauten uns in dem Kellerraum um. Mehrere lange Peckfackeln brannten in eisernen Haltern. Ihr Licht fiel auf vier fensterlose, aus dicken Bohlen gezimmerte Türen an beiden Seitenwänden. Uns gegenüber gähnte ein dunkler Gang, an dessen Ende, tief im Schatten, Treppenstufen nach oben führten.
»Welche Tür?«
Der Mann zeigte auf eine Tür zu unserer Linken. Wir schoben ihn zu ihr hm.
»Aufmachen! Du gehst als erster hinein!«
Mit bebenden Fingern zog der Mann den eisernen Riegel zurück und schwenkte die Tür zur Seite. Ein übler Gestank wehte uns aus der Dunkelheit entgegen. Viburn nahm eine Fackel von der Wand und hielt sie in die Zelle. Wir sahen einen großen, hohen Raum. An der Wand neben der Tür stand ein langer Tisch, auf dem dicke Brotlaibe und Schinkenviertel aufgereiht lagen. Nicht weit von dieser Tafel, etwas mehr als eine Armeslänge entfernt, hingen drei Käfige von der Decke herab. Die eisernen Gitterstäbe waren so bemessen, daß ein Mensch in ihnen sitzen, aber nicht liegen oder stehen konnte. In jedem Käfig kauerte, eben aus dem Schlaf erwachend und uns ungläubig musternd, ein sprachloser Gefangener: Elgor, Junivera und Larix!
Zwei Jahre vergingen, ohne daß aus irgendeinem Teil des Landes eine Nachricht über Yppolita eingetroffen wäre, gerade so, als wäre sie tatsächlich gestorben.
Ulissa, die nun längst nicht mehr von dem Alptraum heimgesucht wurde, wandte sich anderen Dingen zu: die Burgbefestigung mußte erneuert, eine aufmüpfige Bauernschaft niedergeworfen werden.
Da traf ein Brief von Henabe ein, Hofdame im Fürstenschloß von Havena und zuverlässige Agentin des Amazonenvolkes:
»Etwas, das Yppolita, die Verräterin und ruchlose Hure, betrifft: Fürst Halman von Albernia hat eine kleine Gruppe von Kundschaftern ausgeschickt. Die fünf: ein Elf, ein Herumtreiber, eine Geweihte der Rondra, ein Krieger und ein Zwerg – beachtet beiliegende Zeichnung –, haben den ausdrücklichen Auftrag, Nachforschungen über das Verschwinden der schandbaren Buhlerin, der Besudlerin des Amazonenthrons, anzustellen. Wie mir aber mein Gewährsmann mitteilt, verfolgen die fünf vermutlich ein anderes Ziel. Worum es sich dabei handeln könnte, wollte oder konnte er mir nicht sagen. Er erging sich vielmehr in dunklen Andeutungen.
Untertänigste Heilswünsche von Eurer Dienerin
Henabe.«
»Komm, Junivera, steh auf! Du kannst dich auch unterwegs bedanken.«
Die Geweihte streifte Viburns Hand ab und versenkte sich erneut in ein Dankgebet an ihre Göttin, das nun schon fast eine Viertelstunde währte. Sie kniete neben ihrem Käfig auf dem Boden und hatte noch nicht einmal den Raum verlassen, der von einem üblen Gestank erfüllt war: mochten die Gefangenen auch drei
Weitere Kostenlose Bücher