Die Gabe der Amazonen
zu suchen, wie ich es ihr aufgetragen hatte. »Ich glaube nicht, daß es sich noch einmal sehen läßt«, sagte sie leichthin. »Es hat Angst vor uns. Wir haben es besiegt.«
Viburn und ich drangen vorsichtig tiefer in das Gelaß ein, den Blick fest auf die runde Wasserfläche gerichtet, bereit, bei der kleinsten Bewegung zuzustoßen. Nur Mädchen schien sich ihrer Sache völlig sicher zu sein. Sie verschwendete kaum einen Blick auf den Brunnenschacht, schlenderte gelassen durch den Raum, suchte und fand den Säbel, hob schließlich ihren schwarzen Umhang vom Boden auf, legte ihn um die Schultern und verknotete die Schließen unter dem Kinn und über dem Oberkörper.
Inzwischen hatten wir die Öffnung umrundet und das herabgelassene Fallgitter erreicht. Hinter den Stäben hing noch immer der Strick herab, den Viburn oben an dem Sperriegel befestigt hatte.
»Schön, dann wollen wir es noch einmal versuchen.« Er wandte sich um. »Mädchen, du behältst den Brunnen im Auge!«
Ihr war deutlich anzusehen, für wie überflüssig sie diese Anweisung hielt, doch sie stellte sich ohne zu murren am Schachtrand auf.
Viburn ergriff den Strick und zog ihn straff. Ich schob meinen Degen, den Griff voran, durch eine Lücke oben zwischen den Stäben. Das Heft hakte hinter dem Strick, ich drückte. Ein Knirschen war zu hören. Es gab einen Ruck, der Sperriegel glitt zurück, fiel polternd auf den Boden. Viburn versuchte das Gitter anzuheben. Ohne Schwierigkeiten ließ es sich nach oben schieben.
Wir hielten es hoch, bis Mädchen unter ihm hindurchgeschlüpft war. Ich ging als nächster, nachdem ich meine Fackel aus dem Mauerspalt gezogen hatte. Zum Schluß folgte Viburn, dann ließen wir das Fallgitter wieder herab.
Wir drängten uns in einem schmalen, kurzen Korridor, entsprechend dem auf der anderen Seite des runden Verlieses. Auch hier gab es Maueröffnungen in beiden Seitenwänden, in die dem Fallgitter gegenüberliegende Stirnwand war eine Tür eingesetzt. Viburn betastete sie prüfend. Gerade hatte ich meine Fackel gehoben, um ihm bei der Arbeit zu leuchten, da flackerte die Flamme noch einmal hell auf und erlosch. Obwohl ich genau wußte, daß dies unsere letzte Fackel gewesen war, fuhr ich rasch mit der Hand über den Gürtel. Natürlich ohne Erfolg. In der undurchdringlichen Finsternis hörte ich Viburn an der Tür. Ein Schaben, ein Knacken, ein Flüstern: »Geschafft!«
Mädchen griff nach meinem Wams und zog mich sachte nach vorn, zwei, drei Schritte, dann blieb sie stehen. »Sieh mal!« hauchte sie.
Ich strengte meine Augen an, aber rings um uns her gab es nichts als die rabenschwarze Nacht. Und doch, da vorn war ein matter, kaum wahrnehmbarer Schein. Wir gingen noch ein paar Schritte, und nun konnten wir ihn deutlich sehen: einen schmalen, hellen Strich, quer vor uns über dem Boden, eine Türritze, und hinter der Tür leuchtete ein Licht.
Wir steckten die Köpfe zusammen und hielten flüsternd eine Beratung ab. Viburn begann: »Die Tür ist wahrscheinlich nicht abgeschlossen. Die vorherige war es ja auch nicht. Warum sollten die Wächter die Türen zusperren, wenn niemand im runden Verlies eingekerkert ist ... Für das Ungeheuer genügt das Fallgitter ...«
»Dann sieh doch zu, daß du die Tür vorsichtig aufbekommst, einen Spaltbreit wenigstens, damit wir sehen können, was dahinter ist.«
»Ich weiß nicht, ob ich es versuchen soll, Arve. Es müßte mit dem Namenlosen zugehen, wenn dieses alte Holz nicht knarrt und knackt, sobald ich es berühre. Ein verdächtiger Laut – und die Leute hinter der Tür sind gewarnt.«
»Vielleicht ist niemand dahinter«, warf Mädchen ein.
Viburn antwortete nicht. Vermutlich hatte er, um zu lauschen, das Ohr gegen die Tür gepreßt.
»Ich höre nichts, aber was beweist das schon? Wenn der Raum leer wäre, könnten sie sich die Beleuchtung sparen.«
»Was schlägst du vor, Viburn?«
Mädchen antwortete an seiner Stelle: »Du reißt die Tür auf, Arve, und Viburn und ich stürmen hindurch. Ehe die Wachen sich von ihrem Schrecken erholen, haben wir sie zum Schweigen gebracht.«
»Das kann nicht gelingen«, nahm Viburn mir die Worte aus dem Mund. »Wir müßten zuerst ...«
Mädchen hörte ihm gar nicht zu. Sie hatte meine Hand ergriffen und auf die Türklinke gelegt. »Wenn ich sage ›Jetzt!‹, dann reißt du die Tür auf, Arve! Entweder ihr tut, was ich sage, oder ich mache es allein.« Sie meinte es ernst. Weitere Einwände würde sie nicht abwarten. Ich spürte,
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