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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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haben ihm nämlich Achtung eingeflößt.«
    Mädchen schlüpfte nach vorn und hielt uns mit gespreizten Armen auf. »Halt! Bleibt stehen!«
    »Aber weshalb?« fragte Viburn verdutzt. »Schnell vorwärts! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!«
    »Es wird jetzt wieder angreifen«, erklärte Mädchen bestimmt. »Es hat vergessen, was eben geschehen ist – das sehe ich ihm an.«
    Viburn zögerte. »Vielleicht hast du recht. Wir sollten kein Risiko eingehen. Versuchen wir es mit diesem Gang! Arve, leuchte mir den Weg!«
    Ich hatte – ebenso wie Elgor – eine der großen Wandfackeln aus dem Kerker mitgenommen. Mit ihrer Hilfe beleuchtete ich den halbkreisförmigen Gang, der rechts von dem kurzen Korridor vor dem Gelaß abzweigte. Nach ein paar Schritten stießen wir auf die Tür, die Viburn auf dem Hinweg so viel Verdruß bereitet hatte. Von dieser Seite war sie zwar deutlich als Tür zu erkennen – die Tarnung aus aufgeklebten Steinen fehlte –, aber wieder erwies sie sich als unüberwindlich. Das Schloß war fein, zugleich aber äußerst hart. »Ich kann es knacken«, murmelte Viburn, »aber das wird lange dauern. O verdammt! Das muß der Fluchtweg für den Markgrafen selbst sein. Vermutlich besitzt er als einziger einen Schlüssel dazu.«
    Wir kehrten zu den anderen zurück. Das Ungeheuer war verschwunden.
    »Es ist untergetaucht«, sagte Mädchen. »Arve, gib mir deine Fackel!«
    Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie mir die hell lodernde Pechfackel aus der Hand. Sie richtete die Flamme auf den Brunnenschacht und näherte sich der Öffnung mit leisen, fast tänzelnden Schritten. Das Wasser schwallte auf, teilte sich, die widerwärtige Fratze des Ungeheuers erschien, sein rosiger Schlund gähnte zwischen weit klaffenden Kiefern.
    »Lauft!« schrie Mädchen. »Lauft!« Sie stieß die Flamme in das pelzige Gesicht. Im gleichen Augenblick riß ihr ein Klauenhieb des Untiers die Beine weg. Mädchen fiel schwer auf den Rücken, blieb regungslos liegen, rang nach Luft. Die Kiefer schnappten blindlings zu, die Zahnreihen schlossen sich eine Handbreit über Mädchens Gesicht. Elgor und Viburn stürmten heran, trafen die Kreatur mit ihren Säbeln auf Hals und Schädel, hinterließen klaffende Schlitze im braunen Pelz. Der Riesenkopf wandte sich den neuen Gegnern zu. Mädchen kam hoch, langsam, benommen, kroch dem hinteren Ausgang entgegen. Larix und ich liefen, gefolgt von Junivera, um die Kämpfenden herum. Auch Viburn und Elgor rannten los, ließen das geblendete Ungeheuer hinter sich. In der Türöffnung gab es ein Gedränge. Irgend jemand stieß das Brett, mit dem wir das Fallgitter hochgestellt hatten, zur Seite. Die eisernen Stäbe prallten klirrend auf den Steinboden.
    Wir waren hinter Elgors Fackel hergelaufen, durch den engen Korridor in den großen Raum mit der gewölbten Decke.
    »Halt, halt«, schrie Larix. »Junivera und Mädchen! Sie sind nicht bei uns! Sie müssen noch bei dem Ungeheuer sein!«
    Also rannten wir zurück und wieder hinein in den Korridor! Irgendwo im Brunnenschacht lag die Fackel auf dem Boden und beleuchtete eine gespenstische Szene: Mädchen rücklings auf dem Boden ausgestreckt, halb unter dem massigen Leib begraben. Am Gitter kniete Junivera. Die Geweihte hatte ihre Waffe weggeworfen und war verzweifelt bemüht, das Fallgitter nach oben zu schieben. Dabei starrte sie unverwandt die feiste Walze an, deren Wülste achtlos über Mädchen hinwegglitten, während sie sich näher und näher an das Gitter schob. Die Kiefer der Kreatur waren halb geöffnet, die lange Zunge hing schlaff aus dem Mundwinkel. Das zerstörte Auge starrte blicklos und trüb aus seiner blutenden Höhle, das andere war von rußig versengtem Pelz umgeben. Aus einem hell schimmernden Riß in der Kopfhaut rann ein Netz von Blutfäden über das breite Gesicht, in dem sich die Nüstern zuckend öffneten und schlossen.
    Das Entsetzliche dieses Anblicks schien der Geweihten alle Kraft zu rauben. Weder hörte sie Mädchens Stimme, die, vom Gewicht des Kolosses halb erstickt, wieder und wieder Juniveras Name stammelte, noch gelang es ihr, das Gitter auch nur eine Handbreit nach oben zu bewegen. Wie von fern hörten wir sie rufen: »Hilfe! So helft mir doch!«
    Viburn riß das Gitter hoch. Larix schlüpfte als erster hindurch, Elgor und ich folgten ihm. Von allen Seiten hackten und stachen wir auf den monströsen Körper ein. Hageldicht prasselten unsere Schläge. Blut, Wasser, Fellstücke und Fettfetzen flogen durch die Luft.

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