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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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unwegsamer wurde, kam Elgor zu mir, und wir nahmen Viburn in die Mitte. So zerrten und schleppten wir ihn hinein in ein mit dichtem Gestrüpp überwuchertes Tal, folgten einem schmalen Bach, bis er sich in einem felsigen Hügelhang verlor, erkletterten den Hang und stiegen auf der anderen Seite wieder hinab, hinein in ein nächstes Tal, hinter dem ein neuer, noch höherer Hügel aufragte.
    Viburn schnaufte leise und sank in sich zusammen. Er hatte die Besinnung verloren. Larix, dessen Augen niemals stillstanden, entdeckte ganz in der Nähe ein verfallenes Blockhaus. Das Dach war zur Hälfte eingestürzt, Fensterläden und Türe fehlten, aber der von Trümmern übersäte Innenraum bot doch ein wenig Schutz gegen den scharfen Wind, der in den Mittagsstunden aufgekommen war und noch immer – sogar heftiger – über das Land strich. Wir trugen Viburn ins Innere der Hütte und legten ihn auf den Boden. Ich beugte mich über sein Bein. Zu meiner Überraschung war es nicht geschwollen, dabei hatte ich damit gerechnet, daß wir den durchlöcherten Stiefel aufschneiden müßten. Er ließ sich jedoch leicht abstreifen. Viburns Wade fühlte sich eiskalt an. Sie war bleich, fast weiß und von einer Reihe kleiner dunkelroter Wunden gezeichnet.
    Junivera trat zu uns. »Ich werde für ihn beten«, sagte sie. Auf dem Boden kniend, legte sie beide Hände auf Viburns Unterschenkel. Dann bog sie den Kopf in den Nacken und stieß, von gepreßten Atemzügen begleitet, leise, unverständliche Worte aus. Bald standen Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Sie hatte die Augenlider fest geschlossen, zwischen ihren Brauen zog sich eine scharfe längliche Falte.
    Die Zeit verging. Die Abstände zwischen den beschwörenden Worten wurden länger und länger. Die Geweihte war leichenblaß geworden, fast so weiß wie Viburns Bein. Der Schweiß strömte ihr aus den Poren über das Gesicht, die schwarzen Haare klebten auf ihrer Stirn. Ihre Lider begannen zu flattern, dann öffneten sie sich. Sie ließ sich erschöpft zur Seite fallen.
    »Ich habe die Kraft verloren«, stammelte sie. »Die Göttin hört mich nicht mehr ... Alles ist zu Ende ... Alles, alles, alles ...«
    Mädchen stieg achtlos über sie hinweg, bückte sich und betastete Viburns Wade. »Aber wir müssen doch etwas tun ...!«
    »Was denn nur?« Ich war ratlos. »Das fette Vieh hat ihn vergiftet. Wie sollen wir ihm helfen, wenn wir das Gegengift nicht kennen?«
    Die Abenddämmerung sank herab, und Viburn war nicht wieder aufgewacht. Larix schichtete Holzscheite auf dürres Gras und setzte den Haufen in Brand. Wir legten Viburn dicht ans Feuer, Larix wusch das Bein mit Wasser, das er aus einem hohlen Baumstumpf geschöpft hatte. Anschließend belegte er die Wade mit Fadenmoos und umwickelte sie mit Stoffstreifen, die er aus einer alten Decke geschnitten hatte. Den Rest der Decke warf er über den Ohnmächtigen. Wir teilten die Wachen ein – Elgor hatte die erste – und legten uns zum Schlafen nieder.
    Schon nach kurzer Zeit – ich weiß nicht, ob ich schon eingeschlafen war – wurden wir durch Geräusche aufgeschreckt. Von draußen drang ein meckerndes Gezeter, durchmischt mit Elgors Flüchen, zu uns herein. Ich fuhr hoch, riß den Degen aus der Scheide. Larix war noch schneller als ich und stürmte vor mir durch die Tür.
    Im Mondlicht vor der Hütte kämpfte Elgor mit zwei kleinen Kindern. Eines hatte er mit dem Knie auf dem Boden festgenagelt, gleichzeitig wehrte er mit den bloßen Händen den wütenden Angriff des anderen ab, das ihm mit einem Knüppel zusetzte. Larix schob seinen Säbel bedächtig in die Scheide zurück, ich folgte seinem Beispiel.
    »Sag Bescheid, wenn du unsere Hilfe brauchst, Kriegsmann!« spottete der Zwerg.
    Ich beschloß, dem albernen Gefecht ein Ende zu machen. Schließlich konnten die Kinder jeden Augenblick ein Geschrei anstimmen, um ihre Eltern – oder sonst jemanden – herbeizurufen. Also packte ich das Kerlchen, das den Knüppel schwang, von hinten am Kragen, um es in die Höhe zu halten. Zu meiner Überraschung war es so schwer, daß ich dazu auch die linke Hand zu Hilfe nehmen mußte. Selbst dann war das strampelnde Kind nicht leichter zu stemmen als ein Hafersack. Immerhin hielt er endlich still, als er den Boden unter den Füßen verloren hatte. Larix nahm ihm den Knüppel aus der Hand.
    Der Bengel schimpfte wie ein Maraskanfink in einer unverständlichen Sprache. Seine Stimme klang hell, aber kehlig und heiser – das war nicht die Sprache eines

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