Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
wenn du deinen Vater zum Berg Ararat begleitest. Verweile aber nicht zu lange dort. Binnen einer Frist von fünf Jahren hast du an meinen Hof zurückzukehren.«
Ezra und Lucas wagten kaum zu atmen. Doch der Kaiser war noch nicht fertig.
»Mit deiner Ehefrau und den Kindern, die euch Gott bis dahin geschenkt haben mag. Wie ich höre, soll mein Architectulus eine ausnehmend schöne Schwester haben, die nicht nur ihrer im barbarischen England verschollenen Base Xenia verblüffend ähnelt, sondern ebenso kunstfertig zu zeichnen vermag wie ihr Bruder. Ihr solltet sie in Konstantinopel unbedingt aufsuchen.«
Er lächelte Ezra an: »Wäre es nicht erfreulich, Architectulus, wenn deine Schwester Theresa Gefallen an unserem Freund Lucas fände? Und hier am Hof deine Arbeit da fortsetzte, wo du aufgehört hast? Ich würde eine Architectula willkommen heißen und genauso beschäftigen wie bisher dich.«
»Eine Frau!«, entfuhr es König Ludwig. Entgeistert sah er zu Einhard hinüber, hoffend, der Schreiber würde schnell seine sicher vorhandenen Einwände gegen diese Ungeheuerlichkeit geltend machen. Doch Einhard achtete nicht auf ihn. Er blickte den vermeintlichen Architectulus so unverwandt an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Was in gewisser Weise auch stimmte. Ein Weib, dachte er erschüttert; erst die Worte des Kaisers haben mich sehend gemacht. Jahrelang habe ich Seite an Seite mit einer Frau gearbeitet, ohne sie als solche zu erkennen. Wie konnte das nur geschehen? Ist Karl etwa von Anfang an im Bilde gewesen?
»Eine Frau ist ebenfalls ein Geschöpf des Herrn«, wies der Kaiser seinen Sohn streng zurecht. »Eines, das denken, lesen, schreiben und in manchen Fällen auch hervorragend zeichnen kann. Die capella ist der Muttergottes geweiht. Schon deshalb kann ich keinen Grund erkennen, weshalb nicht auch eine Frau unsere Kirche schmücken sollte.« Er warf einen ungeduldigen Blick auf seinen jüngsten Sohn, bedachte Einhard mit einem Lächeln und schloss: »Ich sehe, mein lieber Beseleel, du stimmst mir zu. Wie schön, dass wenigstens du meine Erkenntnis zu teilen vermagst!«
epilog
Des Fremden Dasein ist in aller Welt,
Wie wenn man Schlösser auf die Winde stellt.
Des Windes Weh’n reißt diese Bauten nieder;
Und in die Heimat zieht der Fremdling wieder.
Aus 1001 Nacht (die 709. Nacht)
aachen, Februar 814
I osefos! Lass Odo in Ruhe!«
Ezra warf den Kohlestift zur Seite und sprang von der Bank. Sie entriss ihrem ältesten Sohn das kleine Holzschwert, mit dem er auf seinen jüngeren Bruder einschlug, hob den heulenden Vierjährigen auf und wischte ihm mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. Seines Spielzeugs beraubt, griff sich Iosefos den Kohlestift und zog ihn unter wütendem Gebrüll über das Pergament, auf dem gerade die Zeichnung des Hauses entstanden war, das sich Ezra für ihre Familie wünschte und dem Lucas nie zustimmen würde.
Er wollte ein stabiles Fachwerkhaus und lehnte Ezras eckigen Atriumbau mit weitläufigen Räumen und einem nur leicht abgeschrägten Dach ab. Mehrfach hatte er seine Frau liebevoll darauf hingewiesen, wie wenig selbst eine leicht angepasste Nachbildung des Hauses ihrer Kindheit den Naturgewalten in Aachen trotzen könne und wie aufwendig ein Fundament für einen solchen Bau wäre. Leider könnten nicht alle ihre Träume wahr werden, hatte er bedauert, als sie auf den Wüstenturm hinwies.
Seit fünf Jahren führten Lucas und Ezra in Aachen bereits das Leben, das ihnen Karl bei ihrem Abschied in Aussicht gestellt hatte. Nach ihrer Rückkehr vom Berg Ararat war die schöne junge Frau dem Hof als Theresa, Ehefrau des Lucas, Tochter des Iosefos und Schwester des Ezra, vorgestellt worden. Abgesehen von König Ludwig, der die Widernatürlichkeit von einer Frau als Bauzeichnerin anprangerte, hatte sie überall, vor allem bei Einhard, freundliche Aufnahme gefunden. Neben den Aufgaben als Architectula oblag ihr bald auch, die Töchter und Enkelinnen des Kaisers im Zeichnen zu unterrichten. Alles schien sich zum Guten gewendet zu haben. Bis auf eines: Immer häufiger wurde Ezra von Schwermut übermannt, einer Traurigkeit, der sie sich nicht erwehren konnte. Sie hatte Heimweh. Gerade jetzt im Winter war die Sehnsucht nach Wärme, Licht, nach duftigen Wohlgerüchen, leichter Kleidung und der Weite der Wüste schier übermächtig. Wie viel besser sich meine Kinder doch vertragen würden, wenn ich sie zum Herumtollen an die frische Luft schicken könnte, anstatt sie hier im engen dunklen
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