Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Haus beschäftigen zu müssen.
Aber lag es wirklich nur am Klima und der Beengtheit, dass sich ihre Söhne ständig stritten, überlegte Ezra? Oder daran, dass sie Brüder waren? Kain und Abel hatten einst das Tor zum Bruderzwist aufgestoßen, durch das im weiteren Verlauf der Geschichte unzählige miteinander unversöhnliche Geschwister gestürmt waren. Kalif Harun al Raschid hatte seinen Bruder umbringen lassen. Kaiser Karl, so hieß es, sei über den Tod seines jüngeren Bruders Karlmann gleichfalls wenig unglücklich gewesen. Vielleicht hatte er aus gutem Grund seine eigenen Söhne fern voneinander aufwachsen lassen.
Welch ein Unglück für den Kaiser, dass die beiden ältesten sowie deren Halbbruder, der bucklige Pippin, in Prüm kurz nach dem Tod des glücksbringenden weißen Elefanten Abul Abbas binnen weniger Monate im besten Mannesalter an seltsamen Krankheiten verstorben waren!
Einzig Ludwig von Aquitanien war übrig geblieben. Karl hatte also jenen Sohn, den er für am wenigsten befähigt hielt, zum Mitkaiser erheben müssen. Vor einem Jahr hatte sich Ludwig, dessen Söhne im Übrigen ebenfalls alles andere als friedlich miteinander umgingen, in einer feierlichen Zeremonie ohne Mitwirkung des Papstes unter der Kuppel der Aachen er Marienkirche die Krone selbst auf den Kopf gesetzt. Und jetzt …
Die Tür flog auf. Dunja stürzte herein.
»Frau Gerswind will dich dringend sprechen, Mutter.«
Gerswind. Ezra musste sich sammeln; die richtigen Worte suchen. Wenn es denn solche angesichts des Todes überhaupt gab. Manchmal wünschte sich Ezra, wieder stumm sein zu können.
»Nimm deine Brüder mit«, sagte sie leise. »Und lass Frau Gerswind eintreten.«
Wie nur könnte sie die Sächsin trösten; sie war ja selbst noch voller Trauer, hatte diese mit einer Zeichnung für die Zukunft zu bezwingen und mit Gedanken an ihre Kinder zu verdrängen gesucht.
Aber das Ungeheuerliche blieb bestehen: Kaiser Karl war tot. Er war zwei Wochen zuvor nach kurzer Krankheit gestorben und noch am selben Tag in seiner Kirche unter die Erde gebracht worden – nicht fern jener Stelle, an der auch Iosefos und Dunja die ewige Ruhe gefunden hatten.
Seitdem hatte Ezra ihre Freundin nicht gesehen.
Sie wappnete sich, des Kaisers letzte Gefährtin in Tränen aufgelöst zu sehen, doch Gerswinds Augen waren trocken. Sie griff nach Ezras Hand und sagte eindringlich: »Bereitet euch vor. Wir sind unseres Lebens hier nicht mehr sicher. Wir müssen alle fort.«
»Was sagst du da, Gerswind? Ist es die Trauer, die dich wirr sprechen lässt?«, fragte Ezra.
»Es ist Kaiser Ludwig«, sagte Gerswind. »Er befindet sich auf dem Weg von Aquitanien nach Aachen . Seine Vorhut ist gerade eingetroffen und hat zu wüten begonnen. Den gottlosen Hof aufräumen, nennt das der Kaiser, sagen die Männer.«
»Was soll das bedeuten?«
Jetzt sprudelte es aus Gerswind hervor. »Dass sich jetzt alles ändern wird. Karls Hof gibt es nicht mehr, Ezra. Ludwigs Schergen haben soeben die anderen Friedelfrauen mit Peitschenhieben aus dem Frauenhaus verjagt und deren Kinder in Verliese gesteckt. Ludwigs Schwestern bereiten sich darauf vor, ins Kloster zu gehen, ihre Gefährten sollen der Unzucht angeklagt werden. Im Armenviertel brennen die ersten Häuser; die Freimädchen sind aus der Stadt geflohen. Ezra, Ludwigs Zorn wird auch euch treffen. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er von dir und deiner Lebensweise hält … « Gerswind nickte zur Tür. »Willst du, dass deine Tochter an einem Hof aufwächst, wo Mädchen nicht mehr unterrichtet werden dürfen?«
Ezra atmete tief durch.
»Und was ist mit dir?«, fragte sie.
»Ich muss jetzt gehen«, wich Gerswind aus, »es gilt noch andere zu warnen. Lebewohl, meine Freundin.«
Gerswind war verschwunden, ehe Ezra ein weiteres Wort sagen konnte. Sie zog hastig ihre Fellstiefel an und wickelte sich in einen warmen Mantel.
Lucas war allein im Oktogon. Er stand halb hinter einer Säule verborgen, als sie eintrat.
»Wie vor langer Zeit in meinem Traum«, sagte sie laut.
»Manchmal werden Träume wahr«, erwiderte er lächelnd und deutete zur Kuppel hinauf. Schnell berichtete ihm Ezra von Gerswinds Besuch und schloss mit dem Familienmotto des Kalifen: »Klug ist nicht der, der es versteht, eine Krise zu meistern, sondern der, der die Krise vorhersieht und ihr zuvorkommt.«
»Aber wohin sollen wir uns wenden?«, fragte Lucas ratlos.
»In meinem Traum wiegten sich vor dem Wüstenturm drei Palmen im warmen
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