Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
»Er kann ja sogar lächeln, der junge Sarazene aus Konstantinopel. Tritt näher, Jüngling, und sieh dir das genau an. Stimmt alles mit dem überein, was mich heute Morgen im feuchten Sand überrascht hat?«
Um den Tisch herum hatten sich viele alte und junge Männer versammelt, zwischen die sich ein paar vorwitzige junge Frauen geschoben hatten. Die Gesichter verschwammen vor Ezras Augen, als sie auf den Eichentisch zutrat. Sie senkte den Blick auf die beiden aufgeklappten riesigen Wachstafeln und atmete erleichtert aus.
Irgendjemand hatte ihren Traum eingefangen und zu ihr zurückgebracht. Alles war wieder da. Sie erinnerte sich an den großen Vogel, an die hohen Berge, die Felder, das Meer und die Oase. Ihr war, als spürte sie den Flugwind noch im Haar, als umwehte sie die warme Brise der Wüste, als stünde sie im Schatten der drei Palmen und blickte auf das hohe rote Gebäude mit der Kuppel.
Auf dem weiß gestrichenen Grund der Tafeln erkannte sie eine getreue Wiedergabe ihrer Sandskizzen. Auf einem Untergrund in der Farbe des Propheten, denn das Wachs, aus dem die sorgfältig eingeritzten Linien hervortraten, war grün eingefärbt.
Ezra blickte auf. Geradewegs in die Augen eines jungen Mannes, der ihr am Tisch gegenüberstand. Er war nur wenig größer als sie, von schlanker Statur und hatte langes, hell gelocktes Haar. Sie hielt die Luft an. Ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, auf den König und seine Frage starrte sie unverwandt auf diesen Mann.
Ja, das ist er, dachte sie. Im Traum habe ich nur seine Umrisse gesehen, aber es gibt keinen Zweifel. Ich spüre seine Gegenwart. Dieser Jüngling ist mir im Wüstenturm begegnet. Eine Fügung Allahs des Allmächtigen. Er heißt es gut, dass ich hier bin. Der Rest ihres Unbehagens verschwand. Sie schenkte dem blonden Mann mit den hellen Augen ein kleines Lächeln.
»Trefflich geraten«, lobte Karl. »Das ist Lucas, der Sohn des Odo von Metz. Er war es, der so geschwind dein flüchtiges Werk auf diese Tafeln gebannt hat. Nun sag mir: Ist er dem Original gerecht geworden?«
»Welches Werk?«, tönte Iosefos empört, aber niemand beachtete ihn. Keiner hielt ihn auf, als er sich zu Ezra nach vorn schob, über ihre Schulter auf den Tisch blickte und geräuschvoll die Luft einsog. Er war entsetzt. Nicht etwa, weil Ezra ohne sein Wissen Zeichnungen in den Sand gemalt hatte, und nicht, weil diese auf irgendeine Weise zum fränkischen König gelangt waren.
Er war entsetzt, weil er diese Skizzen schon einmal gesehen hatte. Vor sehr langer Zeit.
Kurz vor Ezras Geburt hatte Amina ihm einen eigenen Entwurf für den Neubau einer Moschee in Bagdad vorgelegt. Sie, die dem Mann untertänige Frau, hatte gewagt, seinen Grundriss anzuzweifeln, sich über seinen Befehl hinwegzusetzen und eine gänzlich andere Zeichnung als von ihm bestimmt anzufertigen! Noch dazu mit einer ähnlichen Kuppel wie jene, die so viel Leid über ihn gebracht und ihn letztendlich aus seiner Heimat vertrieben hatte! Zu ihrer Entschuldigung hatte ihm Amina nur mitgeteilt, Allah habe sie in einem Traum wissen lassen, dass Iosefos genau diese Moschee erbauen solle. Der Weisheit Allahs habe sie sich mehr zu beugen als den Befehlen ihres Gemahls.
Außer sich über ihre Anmaßung, hatte Iosefos sie geschlagen und verflucht. Nie zuvor war es in ihrer Ehe zu einem derart heftigen Streit gekommen. An dessen Ende hatte Amina ihr Werk selbst verbrannt. Während die Papyrusblätter mit ihren Zeichnungen aufloderten, hatte sie ihm mit gleichgültiger Stimme mitgeteilt, dass sie schwanger sei.
»Dann wirst du künftig Wichtigeres zu tun haben, als mir zu widersprechen«, hatte er bemerkt und sich auf seinen künftigen Sohn gefreut, mit dem er einstmals auf Gerüsten stehen würde. Das Schicksal aber hatte eine andere Wendung genommen.
Ezra konnte nichts von diesen Skizzen gewusst haben; dennoch hatte sie genau die gleichen Linien wie einst ihre Mutter gezeichnet, den gleichen überkuppelten Turm, den gleichen Grundriss, den gleichen Schnitt, die gleichen Bögen. War es der Gruß einer Toten? Hatte Amina auf irgendeine Weise das Wissen um diese Zeichnungen dem Wesen unter ihrem Herzen vermittelt? Hatte sie die Blätter klaglos verbrannt, weil sie im Vertrauen auf Allah die Erinnerung an ihre Schöpfung bei ihrem Kind aufgehoben wusste? War das ihre späte Rache dafür, dass er sie misshandelt hatte, weil sie etwas Besseres als er erdacht hatte? Iosefos hätte nicht sagen können, welcher dieser Gedanken ihn
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