Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
weil sie in ihrem Werk gestört worden war. Sie wandte sich der Zeichnung im Sand augenblicklich wieder zu, hob den Stock auf und malte das letzte der drei Worte, die ihr plötzlich in den Sinn gekommen waren.
Neugierig beugte sich Karl vor, folgte ihrem Strich und las laut: »Architectus sum. Expector.«
Er sog den Atem ein, als ihm die beiden großen Skizzen über der Schrift ins Auge fielen. Sie waren im Schein des Vollmondes in den Sand gemalt worden, doch die beginnende Morgenröte ließen sie klar und erhaben hervortreten. Ungeachtet seiner sauberen Hosen, fiel der König auf die Knie, um das Werk näher zu betrachten. Er entschlüsselte einen Grundriss.
»Ein Oktogon, umrahmt von sechzehn Ecken«, murmelte er verwundert und dachte, welche Möglichkeiten sich aus dieser Form ergäben. Odo, der Experimenten abhold war, hatte ein Pentagon wie St. Gereon in Köln vorgeschlagen, was Karl abgelehnt hatte. Das neuste christliche Bauwerk seines Reiches sollte nicht das älteste kopieren. Den zehneckigen Grundriss des Grabmals von Theoderich dem Großen in Ravenna hatte ihm Einhard wegen der guten Zahl ausgeredet und ihm zum Oktogon von San Vitale in Ravenna geraten, das von einem weiteren Achteck umschlossen war.
Auf den Gedanken einer offenen sechzehneckigen Umrahmung aber waren weder der kluge kleine Schreiber noch der erfahrene Baumeister Odo von Metz gekommen.
Karls Blick glitt auf die andere Zeichnung, ein Schnitt durch ein mehrstöckiges turmartiges Gebäude mit Bögen, Säulen und Fenstern. Von bestrickender Einfachheit, gleichzeitig kompakt und steil und von einer gewaltigen weit gewölbten Kuppel gekrönt.
Die Zeichnungen im Sand atmeten etwas sehr Eigenes: beunruhigend fremdartig und dennoch seltsam vertraut. Alles war auf die Mitte ausgerichtet und schien von ihr auszugehen.
Dem König kam es vor, als spräche die Skizze zu ihm. Nimm mich, nimm mich . Ja, eine solche Kirche gehörte an diese Stätte; hier im Sand neben Pippins alter Kapelle tat sich des Königs bislang noch verschwommene Vision kund.
Karl erhob sich. Er war ein wenig benommen, merkte nicht einmal, dass sein Magen laut knurrte. Sich umwendend sagte er auf Latein: »Du hast recht. Ich habe dich tatsächlich erwartet, Architectulus … «
Sein letztes Wort verlor sich in der sanften Morgenbrise. Mit lautem Gezwitscher kündigten die ersten Vögel den Gründonnerstag an. Das seltsame junge Geschöpf, dessen Striche im Sand ihn so bewegt hatten, aber war geräuschlos verschwunden.
kapitel 3
schubkräfte
Vielleicht, dass das Geschick noch seine Zügel wendet,
Und doch noch Gutes bringet trotz des Schicksals Neid,
Mir meine Hoffnung fördert, meinen Wunsch erfüllet,
Und dass noch neue Freude sprießt aus altem Leid.
Aus 1001 Nacht (die 191. Nacht)
F reudig begrüßte der Küchenmeister des Königs den Besucher, der zu früher Morgenstunde äußerst vorsichtig über die fettige Türschwelle des Küchenhauses hinwegschritt.
»Dein Fluch hat gewirkt, Jude! Der Teufel hat Fastrada, die böse Königin, kurz nach deiner Abreise tatsächlich zu sich geholt. Der ganze Hof, ja, das gesamte Land ist erleichtert.«
Hinter ihm ertönte zustimmendes Gemurmel. Verärgert wandte sich der Küchenmeister um. »Holt Feuerholz, ihr Faulenzer!«, bellte er die Schar der Küchenjungen an, »und verschließt die Ohren, wenn sich Herren unterhalten!«
Überrascht musterte er Isaak und setzte hinzu: »Du kommst mit leeren Händen. Hast du uns diesmal so viel mitgebracht, dass du es selbst nicht zu tragen vermagst?«
So könnte man es auch ausdrücken, dachte Isaak. Er sah sich enttäuscht um: Kein Blech mit dampfenden Kuchen, keine gebratenen Hühnerkeulen, keine gefüllten Pasteten, nicht einmal ein winziges Stückchen Fisch in Aspik, das er sich auf die Schnelle in den Mund schieben konnte; auf den Feuern köchelten nur Wasser und dünne grüne Suppe. Ungastliche christliche Fastenzeit, dachte er, griff sich aus einem Korb einen getrockneten Apfelring und ließ sich auf einem Schemel nieder. Er sprach erst, als der letzte Küchenjunge das eingerußte Haus verlassen hatte.
»Was ich diesmal mitgebracht habe, kann kein Ostermahl würzen«, begann er, »auch lässt sich daraus kein Wams schneidern oder zusammenhalten; es glitzert und funkelt nicht, wenn das Licht darauf fällt, es schneidet weder dem Kalb noch dem Feind den Hals ab, dient nicht musikalischer oder philosophischer Erbauung, ist aber dennoch von unschätzbarem Wert für euren
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