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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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heftiger erschauern ließ.
    »Nun?«, fragte der König, jetzt mit leiser Schärfe in der Stimme. »Sprich, Knabe, stimmen die Proportionen, die Lucas, der Sohn Meister Odos, aufgezeichnet hat?«
    Ezra nickte, ohne noch einmal hinzusehen. Sie konnte den Blick von Lucas nicht lösen und versuchte, in seinen Augen zu lesen, ob auch er sie wiedererkannte.
    »Mach endlich den Mund auf!«, forderte Karl, jetzt sichtlich verärgert.
    »Herr, ich bitte um das Wort«, meldete sich Iosefos, »Mein Sohn ist stumm. Ich flehe untertänigst um Verzeihung, edler König.«
    »Gebt ihm eine Wachstafel und einen Griffel!«, verlangte Karl, ohne Iosefos weiter zu beachten.
    Ezra hob einen Arm und griff mit der anderen Hand nach dem winzigen Wachstäfelchen an ihrem Gürtel, das ihr zur Kommunikation mit dem Vater diente. Sie löste es, klappte es auf, kritzelte mit dem anhängenden Griffel ein einziges Wort und hob die Tafel Lucas entgegen: Chrysotriklinium .
    Karl nahm ihr die Tafel ab, runzelte die Stirn und reichte die Schrift an einen älteren rundlichen Mann neben sich weiter. Während dieser das Wort noch studierte, schob sich ein verblüffend klein gewachsener junger Mann heran und sprach es laut aus.
    »Chrysotriklinium«, wiederholte der König. »Wie geschwind doch das Auge meines Schreibers ist. Danke, Einhard.«
    Er lächelte. Wieder spürte Ezra seine Hand auf ihrer Schulter, aber diesmal schrak sie nicht zusammen.
    »Architectulus«, sagte er sanft, »solltest du diesen prächtigen Audienzsaal des Kaisers von Konstantinopel etwa je gesehen haben?« Lachend setzte er hinzu: »Erbaut haben kannst du ihn nicht; es sei denn, du hättest die ewige Jugend gepachtet. Dann müsste ich mich vor dir fürchten, etwas, was ich ohnehin erwäge, denn du hast mich mit deinen Sandzeichnungen im Innersten berührt. Das kann gut oder schlecht für dich sein; ich weiß es noch nicht. Was meinst du, Meister Odo?«, wandte er sich an den alten Mann neben sich, der Ezras Tafel noch immer in den Händen hielt. »Können wir denn ein ähnliches Bauwerk errichten, achteckig wie der Felsendom in Jerusalem, wie San Vitale in Ravenna, wie das Chyrostriklinos oder Chrysotriklinium in Konstantinopel, von dem ich Unglaubliches vernommen habe, also einen eindrucksvollen Rundbau, vergleichbar mit dem Pantheon zu Rom?«
    »Der Rundbau ist nicht das Problem«, antwortete Odo. »Das ist die Kuppel auf einem derartig hohen Gebäude, wie es dieses Knabenbild zeigt. Uns fehlt die Pozzolanerde der Römer, um eine Schale aus Caementitium zu gießen … «
    »Tonröhren?«, unterbrach ihn der König.
    »So bauen die Sarazenen«, murmelte Odo mit deutlichem Blick zu Ezra. »Natürlich könnte man versuchen, wie in San Vitale schmale Tonamphoren zu vermörteln und zusammenzustecken – wenn wir hier jemanden fänden, der in der Lage dazu wäre, sie herzustellen. Ich fürchte jedoch, das wird uns nicht gelingen.«
    »Ziegel?«, fragte Karl scharf.
    »Das radiale Verlegen von Ziegeln ist eine viel zu heikle Technik, mein König, das haben die Oströmer erfahren. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Kuppel wie zu Justinians Zeiten bei der Hagia Sophia in Konstantinopel einstürzt. Zumal wir nicht die geringste Erfahrung mit dieser Wissenschaft haben und die Zeit nicht zur Verfügung steht, um im kleineren Maß zu üben.«
    Odo wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. Er eilte sich, Karls nächstem Einwurf zuvorzukommen: »Stein ist ausgeschlossen. Damit wurde selbst in Konstantinopel seit über zweihundert Jahren keine große Kuppel mehr gewölbt.« Er deutete auf die große Wachstafel mit der Zeichnung. »In einer solchen Höhe und bei dieser Spannweite sind die Schubkräfte unmöglich beherrschbar. Die Kuppel würde in sich zusammenfallen. Eine hübsche Zeichnung, gewiss, aber leider nicht in die Wirklichkeit zu überführen.« Er räusperte sich. »Wir könnten den sechzehneckigen Rundgang übernehmen, aber ansonsten empfehle ich, unseren ursprünglichen Plan beizubehalten, zumal die Zeit drängt.«
    Ezra hatte ihren Blick von Lucas gelöst. Interessiert hörte sie den Ausführungen seines Vaters zu. Dann beugte sie sich über die Zeichnung des Gebäudequerschnitts und zog mit dem Fingernagel der rechten Hand rasch einen scharfen Strich unter den Kuppelaufsatz, deutete auf den Eisenbeschlag der Tafel und sah Odo herausfordernd an.
    »Pff«, stieß der alte Baumeister empört aus. »Die Schmiede will ich sehen, die einen solchen Gürtel zustande bringen!

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