Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
versuchte, sich verzweifelt ins Gedächtnis zu rufen, welche Bilder ihr in der Nacht erschienen waren. Sehr bedeutsame, so viel wusste sie noch, aber sie waren ihrem Geist gänzlich entglitten; sie hatte nur noch eine vage Erinnerung daran, Allahs nächtliche Botschaft im Morgengrauen auf feuchtem Sand festgehalten zu haben und dabei von einem Fremden gestört worden zu sein. Unsicher, ob nicht auch dieses Fragment zu ihrem Traum gehört hatte, sprang sie auf. Sie wollte sofort an die Stätte neben der Holzkirche eilen und sich vergewissern, ob sie dort etwas aufgezeichnet hatte, doch sie kam nicht an Isaak und den Männern des Königs vorbei. Diese drängten sie und Iosefos zu dem großen rot verputzten Steingebäude weiter nördlich.
Niemand kümmerte sich um Dunja, die in aller Ruhe ihr Tuch über den Kopf schlug und sich der seltsamen Prozession anschloss.
Ezra konnte sich nach den vielen schauerlichen Erlebnissen ihrer Reise nicht vorstellen, dass ihnen jetzt noch Schlimmes widerfahren sollte. Außer ihrem Leben hatten sie schließlich nichts mehr zu verlieren. Diesen Gedanken fand sie sehr beruhigend, konnte es jedoch kaum ertragen, wie ihr Vater unablässig über die unziemliche Behandlung zeterte. Als suche sie bei ihm Schutz, fasste sie nach seiner Hand. Da verfiel er sofort in Schweigen. Wenigstens seiner Tochter gegenüber durfte er nicht an Autorität verlieren.
»Du musst den Kopf gesenkt halten, darfst den König erst ansehen, wenn er dich dazu auffordert, und dich ansonsten nicht rühren«, flüsterte er ihr später zu, als sie in die geräumige Königshalle geführt wurden, die außer zwei Teppichbildern kein Ornament schmückte, nicht einmal eine einzige Blume. Nichts schien darauf angelegt zu sein, das Auge zu erfreuen oder den Geist in eine angenehme Stimmung zu versetzen; alles wirkte streng nutzgebunden. Keine kunstvoll zusammengesetzten Mosaike verschönerten Wände und Decke, und nirgendwo standen Duftschalen. Die vereinzelten Möbelstücke waren größtenteils unverziert und aus wuchtigem Holz gefertigt. Leise improvisierte Iosefos weiter: »Ein Fußfall wird nur dann erforderlich sein, wenn man ihn uns anweisen sollte.«
Im Ostrom seinerzeit wurde einem solchen durch einen kräftigen Stoß in den Rücken Nachdruck verliehen, aber damals hatte es in Konstantinopel einen wahrhaften Kaiser gegeben, dem eine Proskynese zustand; hier in Aachen residierte nur ein König, der offenbar weder sich noch seinen Untertanen die elementarsten Grundzüge eines Hofzeremoniells gönnte. Und der – wie Iosefos voller Entsetzen bemerkte – in seinem Empfangssaal sogar junge Frauen mit unzüchtig ausgeschnittenen Gewändern und unbedecktem offenem Haar um sich geschart hatte.
Ezra hielt den Kopf also weiterhin gesenkt, als der Tross zum Stillstand kam.
»Der Baumeister Iosefos, Sohn des Iacobos, und sein Sohn Ezra aus Konstantinopel. Sie sind gestern in Aachen angekommen«, verkündete eine männliche Stimme in einem Latein, das in Ezras Ohren recht barbarisch klang.
Es blieb still im Saal, bis ein anderer Mann vorwurfsvoll hinzusetzte: »Er hat ja immer noch die Haare in den Augen.«
Ezra erkannte die verblüffend helle Stimme sofort.
Es war kein Traum, jubelte alles in ihr; es gibt diesen Mann, also werde ich die Bilder auch aufgezeichnet haben! Wie nur kann ich mich jetzt unbemerkt entfernen, um nachzusehen, ob sie noch da sind, was sie darstellen und bedeuten?
Beglückt hob sie den Kopf. Und begriff mit einem Mal, dass es der König höchstselbst war, der sie am Morgen aufgeschreckt hatte. Das verstörte sie wenig; sie fand es im Gegenteil erheiternd, dass auf unerwartete Weise ein anderer Traum, einer ihrer ganz frühen Jahre, wahr geworden war. Wie alle Kinder Bagdads hatte sie immer gehofft, der Fremde, der an der Tür ihres Elternhauses anklopfte, würde sich später als Harun al Raschid herausstellen, der wieder einmal unerkannt in seiner Stadt unterwegs war. Sie hatte sich vorgestellt, wie der Kalif sie und ihren Vater in seinen Palast einlud, wo er, in ganzer Pracht herausgeputzt, sein wahres Sein offenbaren und ihnen süße Kuchen reichen würde. Nun wischte sie sich ein paar Strähnen aus der Stirn und sah auf. Der Mann vor ihr trug noch die gleiche schlichte Tracht wie bei ihrer morgendlichen Begegnung, nur den blauen Mantel hatte er abgelegt. Süße Kuchen oder andere Erfrischungen waren nirgendwo zu sehen.
»Schon besser«, bemerkte Karl. Er klopfte auf den Tisch, neben dem er stand.
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