Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
ehrwürdigen König Karl.«
Der Küchenmeister liebte Rätsel. Er rief einen der Helfer zur Bewachung der Feuer zurück und bat Isaak in den an das Küchenhaus grenzenden Alkoven, um in Ruhe das Geheimnis entschlüsseln zu können.
»Hier wird uns niemand stören«, sagte er, als er die schwere Holztür zuschlug und sich versichert hatte, dass auch der nach außen führende Feuerfluchtweg verschlossen war. Er schenkte Isaak einen Becher Bier ein, »wo der König den ganzen Hof doch gerade jetzt in helle Aufregung versetzt hat und jeden, der nicht Dringliches zu verrichten hat, aus dem Haus scheucht. Aber ich habe Besseres zu tun, als einen jungen Sarazenen zu jagen, der ihm wahrscheinlich in einem Traum erschienen ist.«
Isaak stockte der Atem. Mit einem Knall setzte er den Bierbecher auf dem Sims neben sich ab.
»Was ist geschehen?«, fragte er. »Berichte mir!«
»Was kümmert uns das«, erklärte der Küchenmeister mit wegwerfender Handbewegung. »Lass mich lieber raten, was du diesmal für uns aufgetrieben hast. Einen dressierten Bären?« Erwartungsvoll sah er Isaak an.
»Erst du«, verlangte der Fernhändler. »Was für ein Sarazene?«
Der Küchenmeister brummte.
»Genaueres weiß ich auch nicht«, sagte er unwillig. »Nur dass dem König nach seiner Morgenandacht in der Kapelle offenbar eine Zeichnung auf der Baustelle daneben aufgefallen ist. Jetzt sucht er den, der sie in den Sand gekritzelt hat. Angeblich ein junger Mann im Sarazenerkleid. Aber wenn du mich fragst … «, er beugte sich vor und flüsterte, »… war der König in frommer Müdigkeit noch voller Gedanken bei der Passionsgeschichte und hat sich im Geiste ins Morgenland versetzt. Denn wie, bitte schön, sollte sich hier ein junger Sarazene unbehelligt herumtreiben können?«
»Was für eine Zeichnung?«, fragte Isaak heiser.
»Von seiner neuen Kirche«, erwiderte der Küchenmeister. »Der hohe Herr denkt ja an nichts anderes mehr, daher wohl auch dieses Traumgesicht. Was sollen wir uns damit abgeben! Ich möchte lieber dein Rätsel lösen! Also … «, er verzog das Gesicht in nachdenkliche Falten, »… kein dressierter Bär. Hast du uns etwa Sklaven mit besonderen Fertigkeiten mitgebracht? Oder ein ungewöhnliches Fuhrzeug?«
»Nein«, erwiderte Isaak ruhig, »nur einen jungen Sarazenen. Und seinen Vater.«
Ezra spürte Hunderte von Augen auf sich, als sie neben ihrem Vater in die große steinerne Halle geführt wurde. In dem Gedränge um sie herum war ihr sehr unbehaglich zumute. Sie war heilfroh, stumm sein zu dürfen, und hielt während des ganzen Weges den Blick auf den Boden geheftet.
»Der König wird uns jetzt empfangen«, murmelte Iosefos ihr zu. Er fand es unbegreiflich und geradezu empörend, dem mächtigsten Mann der westlichen Christenheit ohne jegliche Waschung, Einkleidung oder Einweisung in die Etikette vorgestellt zu werden. Was war das für ein Land, in dem ein Baumeister seines Ranges wie ein Kriegsgefangener oder ein dreckiger, heimatloser Bettler dem König unvorbereitet zugeführt werden sollte?
Er hatte sich noch nicht einmal den Schmutz der Reise abwaschen können und schämte sich seines ungepflegten Äußeren. Fest entschlossen, sich seinen oströmischen Stolz dennoch nicht rauben zu lassen, schritt er hocherhobenen Hauptes voran, ohne auch nur einem der Menschen um sich herum einen Blick zu schenken. Isaak schüttelte den Kopf. Ein mürrischeres Gesicht würde König Karl in seinem Reich schwerlich finden können.
Dabei hatte es ein einziges Mal hoffnungsvoll aufgeleuchtet, als Isaak mit einigen Männern in den Unterstand gestürmt war und Iosefos zugeraunt hatte, der König wolle ihn und Ezra empfangen. Doch dann war für den Baumeister alles ungebührlich schnell gegangen.
»Wir können unmöglich derart besudelt vor dem edlen Herrscher erscheinen«, hatte er protestiert. »Eine solche Audienz bedarf gründlicher Vorbereitung, geistiger Einstimmung und sorgfältiger Pflege des Körpers!«
»Wir sind hier nicht im Kalifenpalast«, erklärte Isaak kurzerhand und drängte ungerührt zur Eile. Iosefos ließ davon ab, Ezra aus ihrem für ihn unerklärlichen morgendlichen Tiefschlaf zu reißen. Was auch nicht mehr nötig war, da der plötzliche Lärm seine Tochter ohnehin geweckt hatte.
Sie setzte sich langsam auf und rieb sich verschlafen die Augen. Die Hektik im Unterstand ließ sie gänzlich ungerührt. Sie hatte andere Sorgen. Ein vergessener Traum ist wie ein verlorener Brief, dachte sie, und
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