Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
auf die gleiche Kunst verstand wie ich.«
»Auf welche Kunst?«
Iosefos holte tief Luft. Er griff nach der Hand seiner bleich gewordenen Tochter und drückte sie fest, ehe er antwortete: »Eine hohe Kirche zu bauen mit einer weiten Kuppel aus gemauertem Stein. Eine Kirche gleich der, die mein Sohn in den Sand gezeichnet hat. Das ist die Wahrheit, Herr König, ich schwöre es, so wahr mir der Allmächtige Aller helfe.«
»Er lügt!«, platzte Odo heraus. »Ich war selbst in Konstantinopel, als es geschah. Ist es nicht ein Beweis seiner Schuld, dass Iosefos der Sohn des Iacobos, vor der Mordanklage geflüchtet ist?«
Der König blickte von einem Baumeister zum anderen.
Seine Schnurrbartenden zitterten leicht, als er die Hand hob.
»Gott und die Kunst sollen das Urteil fällen«, verkündete er. »Gelingt es Meister Iosefos aus Konstantinopel, innerhalb von acht Sommern die steinerne Kuppelkirche für mein Roma secunda fertigzustellen, werde ich ihn für unschuldig erklären und jeden verfolgen lassen, der ihn verleumdet. Misslingt ihm aber diese Aufgabe, wird er des Mordes für schuldig befunden. Dann soll er auf die gleiche Weise den Tod finden wie sein einstiger Meister. Bis dahin stehen er und sein Sohn unter meinem persönlichen Schutz.«
Im Hause Odos herrschte in den darauffolgenden Tagen eine höchst gespannte Atmosphäre. Die beiden alten Baumeister weigerten sich nicht nur, miteinander zu reden, sondern nahmen den anderen überhaupt nicht zur Kenntnis. Da ihnen aber nichts anderes übrig blieb, als Karls Kirche zu bauen, und dies so schnell wie möglich, drängten sie ihre Kinder in die Rolle der Übermittler. Lucas gab Überlegungen und Berechnungen des einen an den anderen weiter, und Ezra hielt ihnen die entsprechenden Skizzen unter die Nasen. Worte wurden fast überhaupt nicht gewechselt. Dies hätte Lucas eigentlich behagen sollen, da ihn die unendlichen Diskussionen der vergangenen Monate über den Bau ermüdet hatten und er sich endlich handfeste Ergebnisse ersehnte. Solche sprudelten jetzt zwar aus einem schier unerschöpflich erscheinenden Quell hervor, aber Lucas hätte zu gern mehr über dessen Ursprung gewusst. Und über den Ezras.
Wenn der Knabe doch nur reden könnte, dachte er. Wie gern würde ich wissen, an welchen Orten er mit seinem Vater gelebt und gearbeitet hat! Er könnte mir so viel erzählen, und ich könnte ihm behilflich sein, sich in unserer für ihn offensichtlich so fremden Welt besser zurechtzufinden.
Wir sind Baumeistersöhne im gleichen Alter, arbeiten zusammen und leben unter einem Dach. Er hat mich bei unserer ersten Begegnung angelächelt, als wolle er sich mit mir verbünden. Warum nur weicht er mir seitdem aus?
Lucas fand es merkwürdig, dass der Name des Iosefos nur mit einem unvollendeten oströmischen Bau in Verbindung gebracht wurde und der König ihn dennoch als Mit-Baumeister für sein ehrgeizigstes Vorhaben erwählt hatte. Es hieß, Iosefos habe nach seiner Vertreibung aus Konstantinopel den Bau polygonaler Klosterkirchen in Karantanien vorangetrieben. Aber diese Gerüchte fußten wohl eher auf dem slawischen Äußeren seiner Ehefrau als auf tatsächlichem Wissen. Iosefos selbst schwieg dazu so beredt wie sonst auch. Er musste keinem Menschen etwas anderes beweisen, als dass er der jetzigen Aufgabe gewachsen war.
Lucas unternahm mehrere vergebliche Anläufe, von Ezra Näheres über ihre Vergangenheit und ihre einstige Vorliebe für ein Sarazenerhemd zu erfahren, doch der Sohn des Iosefos ignorierte alle Fragen, die nichts mit ihrer gemeinsamen Arbeit zu tun hatten. Ungehalten über diese Ablehnung, verlegte auch Lucas sich schließlich aufs Schweigen. Das Zusammenleben gestaltete sich dadurch recht ungemütlich.
Nur Dunja schien von der Missstimmung gänzlich ungerührt. Sie führte geräuschlos den Haushalt, räumte hinter allen her und schenkte jedem ein freundliches Lächeln.
»Meister Odo ist gar nicht so übel«, raunte sie Ezra eines Tages zu. »Er ist nur beleidigt. Aber das wird nicht lange anhalten. Wenn das erste richtige Problem auftaucht, werden die beiden alten Esel miteinander sprechen müssen.«
Eine Woche später war es so weit. In den Augen beider Baumeister spiegelte sich Entgeisterung, als sie bei Grabungen an der Südosthälfte des zukünftigen Sechzehnecks unterhalb Pippins steinernem alten Altar nicht nur auf Reste der alten römischen Thermen stießen, sondern auf eine äußerst sumpfige Stelle.
»Hier können wir nicht
Weitere Kostenlose Bücher