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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Anschuldigung hallte in den Köpfen aller nach. Doch als hätte der fränkische Baumeister nur eine nebensächliche Anmerkung gemacht, forderte der König seinen Vorleser auf, Johannes dreizehn bis einschließlich Vers fünfzehn zu lesen.
    Dem Tumult in ihrem Inneren zum Trotz hörte Ezra aufmerksam zu. Der Vorleser schloss mit den Worten: »Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.«
    Wäre Allah als Mensch je auf Erden gewandelt, hätte er genau wie Jesus gesprochen und gehandelt, dachte Ezra und erschrak sogleich über den Frevel, sich den Allmächtigen als sterblichen Menschen vorzustellen. Sterblich wie ihr Vater. Sie erschauerte.
    Jemand zog sie sanft am Ärmel. Da erst bemerkte sie den Knaben, der ihr schon seit geraumer Zeit eine Schüssel voller Wasser hinhielt. Unsicher blickte sie auf und sah direkt in die hellen Augen des Baumeistersohnes. Der nickte ihr auffordernd zu und machte die Bewegung des Händewaschens. Folgsam tauchte Ezra ihre Hände ins Wasser und trocknete sie am Tuch, das dem Knaben über dem Arm hing.
    Karl schlürfte bereits missmutig die dünne Suppe. Bei aller Gläubigkeit wollte ihm der Sinn des Fastens nicht einleuchten. Und wie so viele, die sich kurzzeitig mit frugaler Kost abfinden müssen, brachte er das Gespräch auf schmerzlich vermisste Köstlichkeiten. Er wandte sich Iosefos zu.
    »Am Tage der Auferstehung unseres Herrn wirst du erleben, wie herrlich wir hier unseren berühmten Spießbraten zuzubereiten verstehen.«
    Ezra atmete erleichtert aus. Er wird es erleben, dachte sie, erschrak aber zutiefst bei Karls nächsten beiläufig geäußerten Worten: »Und nun sprich, Meister Iosefos aus Konstantinopel: Wen hast du wann und aus welchem Grund ermordet?«
    Isaak stand mit einem Stück Brot in der Hand neben der Tür, viel zu weit entfernt, als dass er des Königs Worte hätte verstehen können. Aber in der Miene seines sonst so gleichmäßig griesgrämigen Reisegefährten spiegelte sich innerer Aufruhr. Iosefos war offensichtlich zum Sprechen über etwas sehr Unangenehmes aufgefordert worden. Und der König würde sich nicht mit zwei Worten abspeisen lassen. Das wollte Isaak nicht verpassen. Er drückte sich an der Mauer entlang, blieb vor einer Wandfackel nahe der Königstafel stehen und studierte angelegentlich den nicht sehr kunstvoll gestalteten Feuerhalter.
    »Die Wahrheit ist eine Zuflucht für den aufrechten Mann«, hörte er Iosefos sagen, »und die Wahrheit lautet: Ich habe niemanden ermordet.«
    »Du hast deinen Lehrer, den großen Baumeister Markarios, hinterrücks vom Gerüst gestürzt!«, tönte Odo aufgebracht. »Weil du seinen Platz einnehmen wolltest.«
    Iosefos würdigte den Kollegen keines Blickes.
    »Herr König«, sagte er eindringlich, »die Sache verhält sich genau andersherum. In jenem Jahr, in dem du zum König der Langobarden gekrönt wurdest, hatte mir mein Meister einen Auftrag erteilt, an dem er mich zu scheitern hoffte.«
    »Warum sollte ein Meister so etwas wünschen?«, fragte Karl stirnrunzelnd.
    »Weil er um seine eigene Stellung fürchtete«, entgegnete Iosefos. »In Konstantinopel nannte man mich bereits den jungen Isidoras; das war ihm natürlich nicht entgangen. Mit jugendlichem Übermut nahm ich die Herausforderung an und bewältigte sie tatsächlich. Überzeugt, mein Meister würde stolz auf mich sein, zeigte ich ihm oben im Gerüst, wie ich vorgegangen war. Er ließ sich alles genau erklären. Jung und dumm, wie ich war, kam ich nie auf den Gedanken, Meister Markarios würde mein Werk als sein eigenes ausgeben wollen. Sonst hätte ich mich von ihm doch nicht an den äußeren Rand des Gerüsts drängen lassen. Wo er … «
    Iosefos brach ab. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer.
    »Nun?«, hakte Karl ungeduldig nach.
    »Wo er sagte, wie bedauerlich es doch sei, dass er sich jetzt für alle Zeiten von seinem besten Schüler würde trennen müssen. Er versetzte mir einen gewaltigen Stoß. Bevor ich das Gleichgewicht verlor, klammerte ich mich an ihn. Und so stürzten wir gemeinsam in die Tiefe.«
    »Du hast überlebt«, bemerkte Karl.
    »Weil der Körper meines Meisters den Aufprall abschwächte. Mein rechter Arm wurde zerschmettert.«
    »Wie heißt das Bauwerk, das diese Tragödie heraufbeschworen hat?«, fragte Karl.
    »Es wurde nie fertiggestellt. Weil ich vor dem Zorn der Familie des Markarios aus der Stadt flüchten musste, gab es in Konstantinopel keinen Baumeister mehr, der sich

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