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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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bot sich Lucas an, »zumal wir eine ähnliche Statur haben.«
    »Hervorragend«, meldete sich Einhard, »am besten, du gibst sie ihm gleich. Lass das Sarazenerhemd verbrennen. Und treibe eine Kammerfrau auf, die seine Mutter ausstatten kann.«
    Iosefos dachte an die Waschszene, die der junge Lucas in seinem Haus vorfinden könnte, schluckte aber seinen Widerspruch hinunter. Dunja und Ezra waren zu geübt in der Kunst der Verstellung, als dass sie sich gleich am ersten Tag in Aachen verraten würden. Jedenfalls hoffte er das.
    Tatsächlich war die Tür zur Wohn- und Werkstatt des fränkischen Baumeisters verriegelt.
    »Ich bin es, Lucas«, sagte der junge Mann, als er anklopfte. »Nicht hereinkommen!«, erklang eine weibliche Stimme. »Ich nehme ein Bad.«
    Lucas legte das Bündel Kleider, das ihm die junge Gerswind, eine Ziehtochter Karls, in der Nähstube des Hofs ausgehändigt hatte, vor die Tür.
    »Für deinen Sohn findest du Passendes in der großen Holztruhe«, rief er. »Er soll nehmen, was ihm gefällt. Vor der Tür liegt ein Kleid für dich. Du darfst es behalten.«
    Er trat einen Schritt rückwärts. Dabei stieß er gegen seinen Vater, der die Stiege hinaufgeschritten war, um sich für den Gang in die Kirche frisch einzukleiden.
    Lucas hielt ihn auf.
    »Mit einer Frau im Haus wird sich bei uns einiges ändern müssen«, sagte er zu Odo, der es im Beisein des Königs nicht gewagt hatte, sich über die Einquartierung der Oströmer zu empören.
    »Nichts wird sich ändern!«, donnerte der fränkische Baumeister und erklärte, die Fremden würden, wenn überhaupt, ohnehin höchstens diese eine Nacht bleiben.
    »Wie kann das sein, wenn der König sie hierbehalten will, um die Kapelle des Architectulus zu bauen?«, fragte Lucas, ohne die Bemerkung seines Vaters allzu ernst zu nehmen. Er wusste, wie sehr sich Odo über Karls soeben verkündete Absicht grämte. Monatelang hatten sie an Zeichnungen für die neue Kapelle gesessen, über Einzelheiten und das große Ganze debattiert, und dann warf der König mit einer Handbewegung die gesamte Planung um!
    Lucas konnte die Wut seines Vaters verstehen. In den Bau dieser Kapelle, den krönenden Abschluss seines Lebenswerks, hätten alle seine Fertigkeiten einfließen sollen. Die Sandskizzen des Architectulus gingen jedoch weit darüber hinaus. Lucas achtete und bewunderte seinen Vater, hatte allerdings schon seit geraumer Zeit das Gefühl, nicht mehr viel Neues von ihm lernen zu können. Er befand sich am Anfang seiner Laufbahn als Baumeister, fieberte nach eigenen Erkenntnissen und Entdeckungen und suchte gerade jene Herausforderungen, denen sein Vater aus dem Weg ging. Der hielt sich und seinen Sohn an, Abenteuern mit ungewissem Ausgang fernzubleiben, nicht allzu hoch hinauszustreben, gefährliche Gewölbe zu meiden und lieber Vertrautes und Erprobtes ordentlich umzusetzen.
    Die Abbildungen im Sand gehörten nicht dazu. Doch sie hatten Lucas auf den ersten Blick verzaubert. Ihm war, als wiesen sie ihm einen Weg aus einer fernen Vergangenheit in seine eigene Zukunft, in höhere Sphären seiner Zunft. Sie erschienen ihm wirklicher als der stumme Knabe, der sie angefertigt hatte und den Iosefos als seinen Sohn ausgab. Was Lucas kaum glauben mochte, als er Ezras Gesicht einen kurzen Augenblick lang von den schwarzen Zotteln befreit gesehen hatte. Die verblüffend fein geschnittenen Züge zeigten keinerlei Ähnlichkeit zu denen des mürrischen, langnasigen Baumeisters. Dennoch schien ihm, als habe er dieses Antlitz schon einmal geschaut – vielleicht auf einer aus Stein gehauenen Engelsfigur?
    Ehrfurchtsvoll hatte er die Skizzen in die Wachstafeln eingeritzt. Hier, in den Sand gemalt, war die Herausforderung, auf die er gewartet hatte! Von bestechender Erhabenheit und grandioser Ästhetik, ohne überflüssiges Beiwerk; jede Linie stimmte. Die Proportionen entsprachen nicht nur der Baulehre des Vitruvius, sondern schienen sie sogar weiterzuführen. Der dispositio , also der künstlerischen Gestaltung, und der ordinatio , der allgemeinen Raumordnung, war in diesen Skizzen mehr als nur Genüge getan worden.
    Lucas ritzte die Linien zügig in das Wachs, er musste sich nicht ein einziges Mal korrigieren. Die Arbeit ging ihm so leicht von der Hand, als würde diese von einer höheren Macht geführt. Der letzte Zweifel schwand: Diese Kapelle wartete darauf, gebaut zu werden. Mit genau dieser Kuppel. Was allerdings nicht geschehen würde, wenn es nach seinem Vater ginge.
    Der war

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