Die Gärten des Mondes
galten, verschwanden einfach. Den Adligen erging es nicht sehr viel besser, wenn die Gerüchte wahr waren, die man nach dem Fall von Fahl gehört hatte. Es würde eine andere Welt werden, war das Imperium erst einmal hier, und Rallick war sich nicht sicher, ob er ein Teil dieser Welt sein wollte.
Doch noch immer gab es Ziele, die man erreichen konnte. Er fragte sich, ob es Murillio gelungen war, die Einladungen zu bekommen. Davon hing alles ab. Sie hatten sich in der Nacht zuvor lang und ausgiebig darüber gestritten. Murillio bevorzugte Witwen. Ehebruch war niemals sein Stil gewesen. Doch Rallick war hartnäckig geblieben, und schließlich hatte Murillio nachgegeben.
Der Assassine wunderte sich noch immer, warum sein Freund seinem Vorschlag nur so widerstrebend zugestimmt hatte. Zuerst hatte er gedacht, dass Murillio sich vor einem Duell mit Turban Orr fürchtete. Doch Murillio konnte mit dem Rapier umgehen. Rallick hatte oft genug im Geheimen mit ihm geübt, um ihn für einen Adepten zu halten - und das konnte Turban Orr von sich ganz sicher nicht behaupten.
Nein, es war keine Furcht, die Murillio vor seinem Teil des Plans zurückschrecken ließ. Allmählich dämmerte es Rallick, dass es hier um eine moralische Frage ging. Und plötzlich hatte er eine ganz neue Seite an Murillio entdeckt.
Er dachte noch über die Auswirkungen nach, die sich aus dieser neuen Erkenntnis ergeben mochten, als er plötzlich in der Menge ein vertrautes Gesicht erspähte. Er blieb stehen und sah sich um, betrachtete die Gebäude auf beiden Seiten der Straße, und seine Augen weiteten sich, als er erkannte, wohin seine ziellose Wanderung ihn geführt hatte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die vertraute Gestalt, die alle paar Augenblicke auf der gegenüberliegenden Straßenseite auftauchte. Gedankenverloren kniff der Assassine die Augen zusammen.
Unter dem blausilbernen Morgenhimmel marschierte Crokus durch das Gewimmel der Händler und Käufer die Seeuferstraße entlang. Ein Dutzend Querstraßen voraus erhob sich der Dritte Wall, und dahinter lagen die Hügel der Stadt. Auf dem östlichsten Hügel ragte der Glockenturm des K'rul-Tempels in die Höhe, dessen grün gefleckte Bronzeziegel im Sonnenlicht glänzten.
Crokus hatte immer den Eindruck, als fordere der Turm die strahlende Miene der Majestäts-Halle heraus, wie er so mit wässrigen Augen und von geschichtsträchtigen Rissen gezeichnetem Antlitz über die Stadtgüter und Gebäude hinwegblickte, die sich auf den niedrigeren Hügeln zusammendrängten - einen Ausdruck der Erschöpfung in seinem spöttischen Glanz.
Crokus teilte ein wenig die Zurückhaltung des Turms gegenüber dem falschen Schein, der in der Majestäts-Halle herrschte, ein Gefühl, das über die Jahre von seinem Onkel auch auf ihn übergegangen war. Was dieses Gefühl noch bestärkte, war eine gehörige Portion jugendlichen Widerwillens gegenüber allem, was nach Autorität schmeckte. Und obwohl er sich wenig Gedanken darüber machte, war dies einer der stärksten Impulse für sein Dasein als Dieb. Doch niemals zuvor hatte er wirklich verstanden, was für die Betroffenen vielleicht das Schlimmste an seinen Diebstählen war - das Eindringen in die Privatsphäre, die Verletzung ihres persönlichen Raumes. Wieder und wieder, Tag und Nacht, kehrte in seinen träumerischen Wanderungen das Bild des jungen Mädchens zurück, die schlafend in ihrem Bett gelegen hatte.
Schließlich begriff Crokus, dass diese Vision viel mit... ja, mit allem zu tun hatte! Er war in ihr Zimmer gekommen, einen Ort, den nicht einmal die hochwohlgeborenen Bürschchen, die an ihren Fersen klebten, betreten durften, einen Ort, an dem sie mit den zerschlissenen Puppen ihrer Kindheit sprechen mochte, als Unschuld noch mehr als einfach nur eine Blume gewesen war, die noch nicht gepflückt worden war. Er hatte ihren Zufluchtsort betreten. Und er hatte ihn geplündert, hatte dieser jungen Frau ihren wertvollsten Besitz geraubt: ihre Privatsphäre.
Es spielte keine Rolle, dass sie die Tochter der D'Arles war, dass sie von edlem Blut war - von Blut, das nicht von der Berührung der Herrin der Bettler befleckt war -, dass sie geschützt und abgeschirmt von den Erniedrigungen der wirklichen Welt durchs Leben gehen würde. All diese Dinge spielten keine Rolle. Für Crokus war das, was er ihr angetan hatte, gleichbedeutend mit einer Vergewaltigung. Dass er so frech und dreist ihre Welt zerstört hatte ...
Ganz und gar mit dem Sturm aus
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