Die Gärten des Mondes
jungen Männer in ihren hochgezogenen Sätteln hatten ernste Gesichter und blickten ungerührt nach vorn. Die wenigen Frauen, die sich zwischen ihnen befanden, waren groß und wirkten irgendwie wilder als die Männer. Der Sonnenuntergang ließ die Helme rot aufblitzen, so dass die Augen des Mädchens zu brennen begannen und alles vor ihrem Blick verschwamm.
»Du bist die Tochter des Fischers«, sagte die alte Frau. »Ich hab dich schon öfter gesehen, auf der Straße oder unten am Strand. Und zusammen mit deinem Vater auf dem Markt. Er hat nur noch einen Arm, stimmt's? Noch mehr Knochen für ihre Sammlung, was?« Sie machte eine hackende Bewegung mit einer Hand und nickte. »Ich wohne in dem ersten Haus, da vorn am Weg. Von den Münzen kauf ich mir Kerzen. Jede Nacht zünde ich fünf Kerzen an - fünf Kerzen, damit die alte Rigga nicht so allein ist. Es ist ein müdes altes Haus, Schätzchen, voll mit müden alten Sachen. Ich gehör auch dazu. Was hast du da in deinem Korb?«
Nur allmählich begriff das Fischermädchen, dass ihr eine Frage gestellt worden war. Sie wandte ihren Blick von den Soldaten ab und lächelte auf die alte Frau hinunter. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »die Pferde sind so laut.«
»Ich hab dich gefragt, was du in deinem Korb hast, Schätzchen«, wiederholte Rigga ihre Frage diesmal lauter.
»Garn. Genug für drei Netze. Eins müssen wir bis morgen fertigkriegen. Papa hat das Letzte verloren - irgendwas im Wasser hat es mit dem ganzen Fang in die Tiefe gezogen. Ilgrand Lender will das Geld zurückhaben, das er uns geliehen hat, deshalb müssen wir morgen unbedingt einen Fang machen. Einen guten Fang.« Sie lächelte erneut und ließ ihren Blick wieder zu den Soldaten wandern. »Ist das nicht wunderbar?«
Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Rigga das Mädchen an den dichten schwarzen Haaren gepackt und zerrte kräftig daran.
Das Mädchen schrie auf. Der Korb auf ihrem Kopf begann zu wackeln, rutschte auf eine Schulter hinab. Sie griff hastig danach, doch er war zu schwer. Der Korb fiel zu Boden und brach auseinander. »Aah!«, japste das Mädchen und versuchte sich hinzuknien. Aber Rigga riss sie an den Haaren zu sich herum.
»Du hörst mir jetzt mal zu, Schätzchen!« Der saure Atem der alten Frau schlug dem Mädchen ins Gesicht. »Das Imperium unterdrückt dieses Land jetzt schon seit hundert Jahren. Du bist in dieser Zeit geboren worden, ich nicht. Als ich in deinem Alter war, ist Itko Kan noch ein eigenes Land gewesen. Wir haben eine Flagge gehabt -unsere eigene Flagge. Wir sind frei gewesen, Schätzchen.«
Dem Mädchen wurde schlecht von Riggas Atem. Sie kniff die Augen zu.
»Das ist die Wahrheit. Vergiss das nie, sonst wird dich der Schein der Lügen für immer blenden.« Riggas Stimme hatte einen leiernden Tonfall angenommen, und augenblicklich erstarrte das Mädchen. Rigga. Riggalai, die Seherin. Die Wachshexe, die Seelen in Kerzen schloss und verbrannte. Seelen, die von Flammen verzehrt wurden ... Riggas Worte klangen wie eine Prophezeiung und ließen das Mädchen frösteln. »Vergiss das nie. Ich bin die Letzte, die zu dir spricht. Du bist die Letzte, die mich hört. So sind wir verbunden, du und ich, was auch immer geschieht.«
Riggas Finger krallten sich fester in das Haar des Mädchens. »Jenseits des Meeres hat die Imperatrix ihr Messer in jungfräulichen Boden getrieben. Bald wird es eine Flut aus Blut geben, und du wirst mitgerissen werden und ertrinken, wenn du nicht vorsichtig bist. Sie werden dir ein schönes Pferd geben, dir ein Schwert in die Hand drücken und dich übers Meer schicken. Aber deine Seele wird von einem Schatten umarmt werden. Hör zu! Du musst dies tief in deinem Innern vergraben! Rigga wird dich schützen, denn wir zwei sind verbunden. Aber mehr kann ich nicht tun, verstehst du? Achte auf den Lord, den die Dunkelheit hervorgebracht hat, denn es ist seine Hand, die dich befreien wird, auch wenn er es nicht weiß ...«
»Was ist da los?«, bellte eine Stimme.
Rigga wandte ihr Gesicht der Straße zu. Ein Vorreiter hatte sein Pferd gezügelt. Die Seherin ließ die Haare des Mädchens los.
Das Mädchen stolperte einen Schritt zurück. Sie rutschte auf einem Stein aus und fiel hin. Als sie wieder aufsah, war der Vorreiter bereits weitergeritten. Ein anderer donnerte heran.
»Lass die hübsche Kleine in Ruhe, alte Hexe«, knurrte er. Er kam noch näher heran, lehnte sich aus dem Sattel und holte mit der flachen Hand aus. Der eisenbeschlagene
Weitere Kostenlose Bücher