Die galante Entführung
Lieblingskundinnen an oberster Stelle. Sie waren reich, sie wohnten ständig in Bath, und sie brachten die Früchte von Madame Lisettes Genie bestens zur Geltung. Bei weitem nicht alle ihrer Kundinnen wurden von ihrer persönlichen Aufmerksamkeit beehrt, aber kaum hatte ihre Erste Verkäuferin den Landauer erblickt, der draußen vorfuhr, als sie auch schon eiligst ein Lehrmädchen in Madames Büro mit der Neuigkeit sandte, die Damen Wendover – und zwar alle Damen Wendover! – wollten soeben den Laden betreten. Nachdem sich also die Damen Wendover gütigst nach Miss Snisbys Gesundheit erkundigt hatten und ihr Lakai das Paket mit den von Miss Abigail in London erstandenen Seiden, Gazestoffen und Musselinen der Obsorge eines Lehrmädchens übergeben hatte, erschien Miss Mudford auf dem Schauplatz. Sie war in eine Robe aus schwerer Seide, jedoch von nüchterner Farbe, passend, aber erlesen gekleidet. Sie verband die Selbstverständlichkeit des Fachmanns und die Ehrerbietung, welche Damen von Stand gebührt, aufs glücklichste mit der verbrieften Vertraulichkeit eines alten und zuverlässigen Gefolgsmannes. Nicht weniger Geschicklichkeit bewies sie darin, die jüngste Miss Wendover davon zu überzeugen, daß der Stil der Kleider, der einer Jungverheirateten angemessen war und nach dem dieses Fräuleinchen gierte, sie nicht schick, sondern im Gegenteil entschieden provinzlerisch aussehen ließe. Ihr Takt war so groß, daß Fanny den Salon eine Stunde später in der angenehmen Überzeugung verließ, sie sei bei weitem nicht etwa als Schulmädchen behandelt, sondern ihr Geschmack gebilligt worden, und die sich aus ihm ergebenden Schöpfungen würden dem dernier cri der Mode entsprechen.
Als diese befriedigende Sitzung vorbei war, begaben sich die Damen zur Trinkhalle. Hier pflegte Selina, falls das Wetter nicht unfreundlich war oder sich keine angenehmere Ablenkung bot, angewidert in kleinen Schlückchen ein Glas der berühmten Wasser zu trinken. In der Halle trafen sie Freunde und Bekannte, unter denen der prominenteste General Exford war, einer von Abbys ältlichen Verehrern, und Mrs. Grayshott mit ihrer Tochter Lavinia, Fannys bester Freundin. Bald steckten die beiden Mädchen die Köpfe zusammen, und während Abby die Galanterien des Generals anmutig abwehrte, verwickelte Selina, bei der man mitunter das Gefühl hatte, daß sie sich mehr für die Angelegenheiten Fremder als die ihrer Familie interessierte, Mrs. Grayshott in ein ernstes Gespräch. Der Zweck ihrer mitfühlenden Erkundigungen war es, zu erfahren, ob Mrs. Grayshott schon Nachricht von ihrem einzigen Sohn erhalten hatte. Zuletzt hatte er aus Kalkutta geschrieben, erwartete aber täglich, sich auf die lange Heimreise nach England zu begeben. Der ängstliche Ausdruck in Mrs. Grayshotts ziemlich abgehärmtem Gesicht vertiefte sich, als sie kopfschüttelnd, jedoch mit einem tapferen Lächeln sagte: »Noch nicht. Aber mein Bruder hat mir versichert, daß er alle nur denkbaren Vorkehrungen für seine Bequemlichkeit getroffen hat. Ich bin überzeugt, es kann jetzt nicht mehr lange dauern, bis er wieder bei mir ist. Mein Bruder ist ja so gütig! Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er seinen eigenen Arzt zu Oliver hinübergeschickt, davon bin ich überzeugt. Er macht sich nämlich Vorwürfe wegen dieser gräßlichen Krankheit, aber das ist unsinnig. Oliver ging sehr bereitwillig nach Indien, und wie, fragte ich meinen Bruder, konnte er denn auch voraussehen, daß das Klima für die Konstitution des armen Jungen so unvorteilhaft sein würde? Ich konnte es jedenfalls nicht, denn er hat sich immer vortrefflicher Gesundheit erfreut.«
»Ah!« sagte Selina düster, »wenn sie nur nicht durch dieses traurige Mißgeschick zugrunde gerichtet worden ist!«
Ihr Ton enthielt keinerlei Hoffnung für die Zukunft des jungen Grayshott. Als sie fortfuhr, die gräßliche Leidensgeschichte zu erzählen, die in einem ganz ähnlichen Fall erduldet worden war – nicht gerade von einem ihrer persönlichen Bekannten, aber der Mann war der Vetter einer ihrer Bekannten, oder falls nicht ein Vetter, so jedenfalls ein enger Freund, nicht, daß das etwas zu sagen gehabt hätte –, konnte Mrs. Grayshott nur dankbar sein, daß das Eintreffen der Miss Butterbank in der Trinkhalle den entmutigenden Bericht unterbrach, bevor er seinen Höhepunkt, das Totenbett, erreicht hatte. Mrs. Grayshott entfloh, und tat es unverzüglich. Als sie sah, daß die jüngere Miss Wendover soeben ihren
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