Die Galerie der Lügen
sich um und lief zur Tür hinaus. Sie konnte gerade noch sehen, wie Cadwell und Theo aus der Diele ins Freie traten.
Dicht hinter ihr folgten Darwin und all die anderen. »Was ist plötzlich in dich gefahren?«, raunte er.
»Ich war so blind!«, wetterte sie, während sie mit weit ausholenden Schritten den Flur durchmaß. »Nicht mein Bruder, sondern Martin Cadwell ist der › unachtsame Schläfer ‹ Theo hatte es mir selbst erklärt, freilich ohne den Namen zu nennen. Er schlafe – er verstecke sich –, sagte er, aber er lebe.«
Bei der Bildhauerwerkstatt war Alex stehen geblieben. Sie stieß die Tür auf.
»Himmel!«
Ein Schauer ließ sie erzittern.
»Rede nicht in Rätseln!«, flehte Darwin.
Sie deutete nur auf die fertige Figur des kleinen Herkules. Seine Augen waren verbunden.
Darwin schüttelte verständnislos den Kopf . »Was…?«
Alex drehte sich um, fand neben ihrem Partner auch den Einsatzleiter, verkrallte sich in dessen Ärmel und schüttelte ihn. »Sie müssen Theo sofort aufhalten, Colonel.«
»Wieso? Der Doktor schien ihn unter Kontrolle zu haben.«
Verzweifelt deutete Alex zu dem blinden Herkules. »Aber verstehen Sie denn nicht? Die Figuren mit verbundenen Augen sind Tote. Theo hat sie umgebracht. Wenn Sie ihn nicht aufhalten, wird er sich mit unserem Vater in die Luft sprengen.«
»Halten Sie Kendish auf, Colonel«, befahl Lord Witcombe aus dem Hintergrund.
Ehe der Einsatzleiter seinen Funkspruch absetzen konnte, drängte sich Jack Jordan durch die Menge. Wie ein Hundertyardsprinter raste er in die Diele und aus dem Haus.
»An alle Einheiten«, sprach derweil McCauley in sein Mikrofon. »Neuer Befehl: Eliminieren Sie Kevin Theo Kendish! Er will sich mit Dr. Cadwell in die Luft sprengen. Ich wiederhole: finaler Rettungsschuss auf den Begleiter von…«
Eine ohrenbetäubende Explosion schnitt McCauley das Wort ab. Fensterscheiben klirrten, und Putz rieselte von der Decke. Im Haus zogen alle die Köpfe ein. Einige Männer schrien.
»Bericht«, brüllte der Einsatzleiter in sein Mikrofon. »Ich will sofort einen Bericht haben. Was ist da draußen passiert?«
Er lauschte einen Moment. Alex konnte sehen, wie sein Gesicht zu einer Maske erstarrte. Schließlich bedankte er sich und wandte sich an den Lordkanzler.
»Tut mir Leid, Mylord. Wir kamen zu spät. Theo Kendish hat sich in die Luft gesprengt.«
»Das ist wohl offensichtlich. Was ist mit Dr. Cadwell, Colonel? «
McCauley schüttelte den Kopf. »Ist nicht viel von ihm übrig geblieben. Von beiden nicht. Seinen Bodyguard hat’s auch erwischt.«
Epilog
»Sleeper [engl. › Schläfer ‹ ]
› … jemand der scheinbar keine Bedeutung hat und für gewisse Zeit unbemerkt bleibt, bevor er sehr wichtig wird… ‹ «
Websters Third New International Dictionary
LONDON (ENGLAND),
Dienstag, 30. Oktober, 21.50 Uhr
Ein paar Tage lang berichteten die Medien noch über das dramatische Geschehen im Landhaus bei Oxshott. Der Reporter von CNN hatte seine Fernsehkamera keine Sekunde lang abgeschaltet, wodurch alle Geschehnisse im »Schreckenskabinett des Theo Kendish«, lückenlos und live ausgestrahlt worden waren. Millionen Menschen sahen in nicht enden wollenden Schleifen, wozu ungezügelter Forscherdrang führen konnte. Auch Alex Daniels’ letzte Folge der »Galerie der Lügen« lieferte dazu erhellende Hintergründe und sorgte noch einmal für Gesprächsstoff.
Ob eine Woche nach dem medienwirksamen Abgang von Kevin Theodore Kendish das Konglomerat an spektakulären Nachrichten und die damit einhergehende hitzige öffentliche Diskussion oder schlicht die kühle Vernunft den englischen Parlamentariern die Hand geführt hatte, darüber lässt sich trefflich streiten. Fest steht, dass am 30. Oktober vom Unterhaus das Gesetz zur Freigabe des reproduktiven Klonens und der quasi uneingeschränkten Forschung am menschlichen Erbgut mit überwältigender Mehrheit abgeschmettert wurde. Es blieb alles beim Alten.
Vorerst jedenfalls.
Alex wurde vom Vorwurf der Mittäterschaft an den Museumseinbrüchen endgültig entlastet. Aber jene, die glaubten, dass nur Messbares und Beobachtbares zur Realität unseres Daseins gehört, sahen in ihr weiterhin eine Feindin, die mit allen Mitteln zu bekämpfen sei.
Andere dagegen hatten begonnen, über Fragen zu diskutieren, die bis vor kurzem für sie überhaupt nicht zur Debatte standen: Besitzt die Wissenschaft, so wie sie sich in den vergangenen einhundertfünfzig Jahren
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