Die Galerie der Nachtigallen
sie die schöne
Helena. Angesichts solcher Schmeicheleien, und da er wieder den
Geschmack des Bieres auf den Lippen spürte, fand Sir John
seine gute Laune wieder, und hörte diesmal aufmerksam zu, als
Athelstan erzählte. Er rülpste laut, als der Bericht
beendet war, und stocherte sich mit einem Holzsplitter in den
Zähnen herum. Athelstan glaubte schon, er werde wieder
einschlummern, aber der Coroner nahm noch einen großen
Schluck aus seinem Bierkrug.
»Sir
John«, drängte Athelstan gereizt, »wir müssen
über die Sache reden.«
»Ja, ja«,
bellte der Coroner. »Bestelle mir noch so einen, und ich
höre dir weiter zu.«
Athelstan gehorchte.
Sir John war jetzt vollends wach, aber immer noch betrunken;
rülpsend starrte er in der Schänke umher und murmelte,
was für ein ausgezeichneter Laden dies doch sei. Athelstan
dachte an das Huhn auf dem Rand des Bierbottichs und behielt seine
Meinung für sich. Er nippte langsam an einem Becher Wein mit
Wasser und beschloß, zu seiner Kirche zurückzukehren.
Vielleicht war das Dach noch immer nicht repariert. Vielleicht ging
Cecily, die Hure, immer noch ihrem Gewerbe nach. Und was mochte aus
Godric geworden sein? Ob Benedicta ihn wohl vermißte? Er
schaute durch das kleine Fenster. Die Sonne ging unter, und es war
Zeit zu gehen. Der Fall Springall lag unter einem Gewebe von
Lügen verborgen. Er war zu müde, um jetzt weiter darin
herumzustochern, und Cranston war zu betrunken.
Athelstan erhob sich.
»Sir John, hört!«
Der Coroner blickte
benebelt auf.
»Sir John, ich
kann jetzt nichts mehr mit Euch anfangen. Ich muß zu meiner
Kirche zurück. Morgen oder übermorgen, wenn Ihr in
besserer Verfassung seid, könnt Ihr mich dort
abholen.«
Athelstan nahm seine
Ledertasche, marschierte zur Schänkentür hinaus, holte
Philomel und ritt langsam durch die leeren Straßen zur London
Bridge.
Cranston sah ihm nach
und ließ sich dann wieder gegen die Wand sinken.
»Herrgott!« murmelte
er. »Ich wünschte, du würdest bleiben, Athelstan!
Bloß dies eine Mal ...«
Stöhnend schob er
den Krug von sich. Er hatte genug getrunken und bereute es schon.
Aber der Bruder war nicht der einzige, der ein Geheimnis hatte, und
Sir John trank, um das seine zu ertränken. Niemand erinnerte
sich daran - außer Maude, die ihre Gedanken für sich
behielt -, daß in dieser Woche vor sieben Jahren sein kleiner
Sohn Matthew plötzlich gestorben war, ein Opfer der Pest, die
die Gassen und Straßen von London heimgesucht hatte. Cranston
biß die Zähne zusammen und blinzelte heftig, wie er es
immer tat, wenn ihm die Tränen wieder in die Augen stiegen.
Jeden Tag mußte er an Matthew denken, an das kleine
Engelsgesicht und die blauen, unschuldsvoll schimmernden Augen.
Christus konnte ihm nicht vorwerfen, daß er trank. Er
würde trinken und trinken, bis die Erinnerung fort wäre.
Und warum auch nicht? Aber das Trinken benebelte seinen Verstand,
und im Grunde seines Herzens wußte er, daß Athelstan
mit seiner Mißbilligung recht hatte. Lähmende
Trunkenheit half niemand weiter. Im Hause Springall war gemordet
worden, absichtlich und bösartig. Aber wo war der Beweis? Er
versuchte sich mühsam zu erinnern, was der Bruder ihm da
vorhin erzählt hatte. Weder Brampton noch Vechey hätten
Selbstmord begangen. Aber wo war der Beweis? Cranston strengte sich
an, einen klaren Kopf zu bekommen. Auch er wußte ja,
daß da was nicht stimmte. Etwas störte ihn an der ganzen
Sache, etwas, das er heute morgen an der Brücke gesehen hatte
...
»O Gott,
Matthew, du fehlst mir so«, murmelte er. »Ach, die
ganze Welt soll sich aufhängen!«
Er wollte neues Ale
bestellen, als er an Maude dachte und an das Versprechen, das er
ihr gegeben hatte. Wenigstens heute abend würde er halbwegs
nüchtern nach Hause kommen. Cranston schob den Krug wieder von
sich und verließ schwerfällig die Schänke, um sein
Pferd zu holen und zu seinem Haus in der Poultry
zurückzureiten.
Zwei Tage waren nach
seiner Rückkehr aus der Stadt vergangen. Athelstan stand
früh auf und ging, seinen kleinen Garten in Augenschein zu
nehmen. Dort starrte er wütend umher: Ein Schwein hatte in
seinem Kohlbeet herumgewühlt. Athelstan fluchte mit
Ausdrücken, wie Cranston sie bei solchen Gelegenheiten
benutzte. Er war wütend und aufgeregt. Bei seiner
Rückkehr hatte er seine Kirche unversehrt vorgefunden; aber
Godric war verschwunden.
»Wißt Ihr,
Pater«, erklärte Watkin, der Mistsammler, »der
törichte Halunke hat gedacht, er könnte sich
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