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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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gehen, sitzen, essen und beten. Komm,
Bruder«, sagte er dann müde, »laß uns diesen
Fall abschließen und auf Selbstmord befinden.«
»Bald«, sagte Athelstan
leise.       
    Er bat um einen Becher
Wasser, trank ihn aus, überließ Cranston seinem Bier und
ging hinaus. Es war jetzt heller Nachmittag. An den Ständen
und Buden auf der Cheapside herrschte reges Treiben, und das
Geschrei der Verkäufer und die frechen Verwünschungen der
Lehrjungen waren zu unerträglichem Getöse angeschwollen.
Ein Ritter drängte sich durch die Menge; er war auf dem Weg zu
einem Turnier irgendwo in der Nähe. Sein stählerner
Hosenlatz war groß wie für einen Stier, und der Helm,
der am Sattelhorn baumelte, sah aus wie die makabre Maske eines
Henkers. Bei ihrem Anblick hatte Athelstan eine Idee. Sie
ließ ihm keine Ruhe und er drängte sich durch die Menge
nach St. Mary Le Bow.
    Pater Matthew ruhte;
Athelstan argwöhnte, daß er ein wenig betrunken sei,
aber der Priester begrüßte ihn außerordentlich
freundlich und versuchte, ihm gleich einen Becher Rheinwein in die
Hand zu drücken. Athelstan lehnt unumwunden ab, denn die
wenigen Schlucke Ale, die er getrunken hatte, verursachten ihm
schon Bauchkneifen genug. Auch wurde ihm ein wenig übel, wenn
er an das Huhn dachte, das er beim Verlassen der Schänke auf
dem Rand eines offenen Bierbottichs hatte hocken sehen. Er hoffte
nur, daß die Wirtin das Bier durchseiht, ehe sie es Sir John
servierte. Nicht einmal für des Coroners Eingeweide wäre
Hühnermist bekömmlich.
    Der Priester
hörte Athelstan aufmerksam zu.
    »Ja, ja«,
murmelte er. Er kannte die Springalls, eine brave, aber ziemlich
verschlossene Familie. Sie besuchten sonntags die Messe, sie
spendeten großzügig für die Armen, und manchmal
zelebrierte ihr Hauspriester die Messe in St. Mary. Besondere
Großzügigkeit zeigten sie an Weihnachten, Pfingsten und
Gründonnerstag.
    »Und wie
steht’s mit Sir Thomas’ Begräbnis?« fragte
Athelstan.
    »Das wird morgen
früh stattfinden. Nach dem Requiem wird der Sarg hier
beigesetzt.«
    »Und Brampton,
der Selbstmörder?«
    Der Priester lehnte
sich zurück, zuckte die Achseln und wischte sich die fettigen
Hände an der Soutane ab. »Was können wir da tun?
Brampton hat keine Verwandten, und er ist ein Selbstmörder.
Das kanonische Recht gebietet...« »Ich weiß, was
das kanonische Recht gebietet«, unterbrach Athelstan.
»Aber um Gottes willen, Mann, zeige doch Christi Erbarmen
...«
    Der Priester verzog
das Gesicht. »Oh, der wird schon beerdigt
werden.«
    »Wo ist der
Leichnam?«
    »Im Totenhaus,
einer kleinen Hütte hinter der Kirche, beim
Friedhof.«
    »Darf ich ihn
noch einmal sehen?«
    »Der Mann ist
schon in Leichentücher genäht.«
    Athelstan wühlte
seine Börse hervor und nahm eine Silbermünze heraus.
»Wenn ich das Tuch aufreiße, mußt du es wieder
zunähen lassen. Irgendein altes Weib in deiner Pfarrgemeinde
vielleicht...?«
    Pater Matthew nickte,
und die Silbermünze war in Sekundenschnelle verschwunden.
»Tu, was du willst«, brummte er.
    Er lehnte sich
hinüber zu den Schlüsseln, die an der Wand hingen und
nahm einen großen, rostigen herunter. Dann ging er in eine
kleine Kammer und kam mit einer Riechkugel zurück, einem mit
Kräutern und Nelken gefüllten Stoffball. »Das halte
dir vor die Nase. Der Gestank wird schrecklich
sein.«
    Athelstan nahm
Schlüssel und Riechkugel, verließ das Haus des Priesters und ging
an der Kirche vorbei zu der vernachlässigten Hütte. Die
Tür war verriegelt und abgeschlossen. Das riesige
Vorhängeschloß wirkte seltsam fehl am Platze, denn
jeder, der wollte, hätte hier einbrechen können.
Athelstan schob den Schlüssel ins Loch, öffnete das
Schloß und drückte die Tür auf. Drinnen war es
dunkel und muffig. Intensiv säuerlicher Geruch erfüllte
die Luft. Eine uralte Kerze stand festgewachsen im
heruntergetropften Talg, und ein Stück Zunder lag daneben;
Athelstan zündete die Kerze damit an, und der Raum erwachte
zum Leben.
    Bramptons Leichnam lag
auf dem Boden, eingewickelt in ein schmutziges, vergilbtes
Leintuch, das von unkundiger Hand zusammengenäht worden war.
Mit einem kleinen Messer, das er immer bei sich trug, schlitzte
Athelstan die Leinwand behutsam auf. Der Gestank war atemberaubend.
Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Athelstan war Anblick und
Geruch des Todes gewöhnt, und so wurde ihm nicht flau, aber
hin und wieder hielt er sich doch die Riechkugel als willkommene
Erholung an die Nase.

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