Die Galerie der Nachtigallen
Brampton sah inzwischen gräßlich
aus. Sein Gesicht war bläulichgelb und sein Bauch so
aufgedunsen, daß sich das dünne Leinenhemd darüber
spannte. Der Bruder betrachtete den Leichnam gründlich - das
Hemd, die Hose ... Stiefel waren keine da. Athelstan betrachtete
die Fußsohlen und prägte sich sorgsam ein, was er sah.
Dann schlug er ein Kreuz, betete ein Requiem für die arme
Seele des Majordomus, verschloß die Hütte, brachte dem
Priester den Schlüssel und wanderte zur Cheapside
zurück.
Wie es wohl in St.
Erconwald zugehen mochte? Wer würde Godric zu essen bringen?
Würde Bonaventura zurückkommen, oder wäre er
beleidigt, weil er ihn nicht gefüttert hatte? Würde er
jetzt für immer in den stinkenden Gassen verschwinden?
Athelstan wünschte sich, Cranston und diese ganze
Angelegenheit los zu sein; wie gern hätte er auf seinem
Kirchturm gestanden statt auf der Cheapside und hätte zu den
Sternen hinaufgeschaut. Er lehnte sich an die Wand und suchte seine
schuldigen Gedanken zu ergründen. Er vermißte Benedicta,
die Witwe. Ihr Gesicht, unschuldig und engelhaft, war allezeit bei
ihm. Wie lange kannte er sie jetzt? Seit sechs Monaten? Er
flüsterte ein Gebet. Er hatte gesündigt. Jawohl, er
wünschte sich zurück in seine Kirche, zu seinem geliebten
Himmel und seinen Sternkarten, und er wollte auf dem Turm stehen
und sich vom Abendwind kühlen lassen, während er
emporstarrte und sich in der Weite verlor. Brach er sein
Gelübde mit diesen Wünschen? Hätte er lieber Student
werden sollen? Oder Astrologe, eine jener kapuzenvermummten,
gebückten Gestalten, die durch die Gänge von Oxford
geisterten?
Und was machte die
Planeten des Himmels so anziehend? Athelstan nagte an seiner
Unterlippe. Es herrschte Ordnung dort. Ordnung in der Zeit. Ordnung
in der Bewegung. Hatte Aristoteles vielleicht recht? Machten die
Planeten und Sphären Musik, während sie durch das
Universum kreisten? Ein Karren rumpelte vorüber, der
Kärrner brüllte Verwünschungen. Aus seinen
Träumen gerissen, wich Athelstan zurück und sah sich
um.
Hier gab es keine
Ordnung. Ein Bettler, das Gesicht von Geschwüren bedeckt, die
Beine unterhalb der Knie amputiert, stolperte auf Holzkrücken
umher. Eine Hure trippelte vorüber, die Augen von schwarzer
Schminke umringt, die dicken, bemalten Lippen glänzend rot wie
faulende Früchte. Sie grinste spöttisch und tat Athelstan
mit einem Augenzwinkern ab.
Er überquerte die
Straße. In der Mitte der Cheapside stand der Pranger, leer
bis auf einen Mann, groß und dick, dessen Kopf zwischen den
beiden hölzernen Riegeln eingeklemmt war. Hinter ihm qualmten
die Überreste eines kleinen Feuers. Athelstan studierte den
Anschlag über dem Kopf des Gefangenen und stellte fest,
daß es sich um einen Metzger handelte, der faules Fleisch
verkauft hatte. Der Ordensbruder hielt einen Wasserträger an,
nahm seine Kelle und gab dem Kerl zu trinken. Der Gefangene
schlürfte geräuschvoll und dankte ihm mit verquollenem
Blick. Ein berittener Soldat trabte vorüber, und Athelstan
dachte an den Helm des Ritters und an etwas, das er in der
Dachkammer und am Torturm der London Bridge gesehen hatte
...«
Er zog nach Norden,
nach The Elms bei Newgate, wo sich das große, dreiteilige
Schafott dunkel vor dem Himmel erhob; jeder Galgen trug seine
greuliche Last, einen Leichnam, der am Halse aufgehängt
baumelte, den Kopf schief, Hände und Füße
gefesselt. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, und ein Scherge
in der bunten Livree der Stadt würfelte mit zwei Kameraden,
ohne sich um die düsteren Kadaver zu kümmern, die da
über ihren Köpfen hin und her schwangen. Der Platz
ringsum war leer. Seltsam, dachte Athelstan, wie es die Menschen
lieben, ihre Brüder sterben zu sehen, und gleichzeitig Anblick
und Gestank des Todes fürchteten wie die Pest.
Der Scherge blickte
auf, als er herankam. »Was gibt’s,
Bruder?«
Athelstan deutete auf
die drei Galgenvögel und bemühte sich, ihre purpurroten
Gesichter, die schwarz herausgestreckten Zungen, die vorquellenden
Augen und die naßfleckigen Hosen nicht weiter zu
beachten.
»Diese Leute
...?«
»Die haben heute
früh gebeichtet, Bruder«, fiel ihm der Soldat ins Wort.
»Bevor wir sie von der Leiter
stießen.«
»Wie lange
werden sie hängen?« fragte Athelstan.
Der Mann zuckte die
Achseln; Athelstan bemühte sich, nicht auf den großen,
gelben Furunkel an der rechten Wange zu starren, aus dem der Eiter
quoll und das Gesicht verschmierte. Mit toten, vom Trunk
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