Die Galerie der Nachtigallen
benebelten
Augen grinste der Soldat seine beiden Kumpane an, bleiche,
pickelige Jungen, die außerordentlich betrunken
waren.
»Die hängen
bis Sonnenuntergang, Pater. Warum fragt Ihr?«
»Ich möchte
sie ansehen.«
»Die sollen bis
Sonnenuntergang hängenbleiben«, wiederholte der Scherge.
»Ihre Kleider, und was sie haben, gehören uns. Für
jeden gibt es ein Leintuch, ein schnelles Gebet, und dann
geht’s ab in irgendein gottverlassenes Grab, auf daß
sie vor ihren Schöpfer treten.« Er stieß gegen
eine der baumelnden Leichen. »Mit denen braucht ihr kein
Mitleid zu haben, Pater. Die haben eine Frau ermordet - ihr die
Kehle durchgeschnitten, nachdem sie ihr viehisch die Brüste
aufgeschlitzt, sie vergewaltigt und mit Feuer gequält
haben.«
»Gütiger
Jesus, erbarme dich ihrer«, flüsterte Athelstan.
»Aber ich bin hier auf Befehl des Coroners der Stadt, Sir
John Cranston«, fuhr er laut fort. »Ich möchte sie
sehen.« Er wühlte in seiner Börse und warf zwei
Kupfermünzen auf den Boden. Der Scherge rieb sich das Kinn,
sah das Geld an, dann den Bruder, und sog geräuschvoll die
Luft zwischen den schwarzverfaulten Zähnen ein.
Schließlich raffte er sich auf und kläffte einem der
jungen Männer einen Befehl zu. Dieser lehnte die Leiter, die
am Boden lag, an den Galgen und verneigte sich mit dramatischer
Gebärde vor Athelstan. »Bruder, die Leiter wartet auf
Euch. Tut, was Ihr wollt.« Athelstan kletterte langsam
hinauf. Er untersuchte jede der Leichen und schaute sich an, wie
der Strick hinter dem Ohr verknotet worden war. Er drehte jeden
Leichnam hin und her und der saure Geruch des Zerfalls ließ
ihm den Atem stocken. Endlich stieg er wieder hinunter und warf
noch eine Münze auf die Erde. Der Scherge blickte
auf.
»Was jetzt,
Bruder?«
»Wer hat diese
Männer gehenkt?«
»Na, wir alle
drei.«
»Nein, ich
meine, wer hat ihnen die Schlinge um den Hals gelegt?«
»Ich!«
Einer der pickligen Jungen stand auf. »Das war ich, Bruder.
Ich verstehe mich darauf.«
»Würdest du
sagen«, Athelstan mußte sich Mühe geben,
angesichts des Wohlbehagens im Antlitz des jungen Mannes seinen
Abscheu zu verbergen, »würdest du sagen, daß jeder
Henker den Knoten auf seine eigene Weise bindet?«
»O ja,
selbstverständlich!«
»Und an der
Schlinge könntest du erkennen, wen du gehenkt hast und wen
nicht?«
»Natürlich.
Ein Goldschmied zeichnet seine Arbeit schließlich auch. Ein
Maler, der ein Bild gemalt hat, erkennt sein Werk wieder. Genauso
ist es mit dem Henker. Meine Knoten sind einzigartig. Ich binde sie
mit Sorgfalt.« Der junge Mann grinste breit. »Ich
verstehe mein Handwerk, Bruder. Ich sorge dafür, daß sie
langsam sterben.«
»Warum?«
Der Kerl zuckte die
Achseln. »Warum nicht?«
»Macht es dir
Spaß?«
»Na, diese
Schweine verdienen es, lange zu leiden.«
»Und wie leiden
sie?«
»Oh, sie
strampeln ordentlich. Sie strampeln immer.« Athelstan deutete
auf die Füße der Leichen. »Und deshalb hängt
ihr sie immer ohne ihre Stiefel auf?«
»Ja,
natürlich. Bei dem Gezappel würden sie sie sonst
verlieren, und wir wären sie los. Ein Dieb unter den
Zuschauern würde sie stehlen, und wir hätten das
Nachsehen. Aber warum fragt Ihr, Bruder?«
Der Ordensbruder
lächelte und machte das Zeichen des Kreuzes in die Luft.
»Es hat weiter keinen Grund, mein Sohn. Gar keinen
Grund.«
Athelstan wandte sich
von der greulichen Szenerie ab und ging die Cheapside hinauf zum
>Heiligen Lamm Gottes<. Er war sicher, daß Brampton und
Vechey brutal ermordet worden waren, obwohl er noch nicht
wußte, von wem. Cranston döste; er hatte es sich am
Kamin der Schänke gemütlich gemacht. Vor ihm auf dem
Tisch stand eine stattliche Anzahl leerer Zinnkrüge. Die
Wirtin kam herüber. Athelstan warf ihr eine Münze zu und
bat sie, einen frischen Krug und ein bißchen Wein zu bringen,
während er Sir John weckte. Der Coroner wachte auf wie ein
Kind; er murmelte und wußte nicht, wo er war. Athelstan
erzählte ihm von seinem Besuch im Totenhaus und am Galgen.
Aber der Coroner nickte wieder ein. Athelstan ging zu einem
Faß mit schmutzigem Wasser, schöpfte eine Kelle davon
und goß es dem Coroner ins Gesicht. Diesmal wurde Sir John
wach. Er schüttelte sich wie ein Hund und stieß die
furchtbarsten Flüche aus. Versöhnt war er erst wieder,
als die Wirtin ihm einen schäumenden Krug vorsetzte und ihm
verstohlen einen über die Maßen sehnsuchtsvollen Blick
zuwarf, ganz so, als wäre er Paris und
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