Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
Vom Netzwerk:
Geschrei und gutmütiges Gejohle verstummte.
»Ich werde euch zeigen, daß ich Macht über die
Materie habe. Ja, Macht über die Vögel in der
Luft.« Er wandte sich um und deutete hinauf zur Krone der
Klostermauer. »Seht die Taube dort!« Jedermanns Blick
folgte der Richtung, in die der Finger wies. »Und jetzt
schaut«, fuhr der Bursche fort, und mit einem Stück
schwarzer Holzkohle zeichnete er in rohen Umrissen einen Vogel auf
die Klostermauer. Dann fing er an, die Zeichnung mit einer Nadel zu
attackieren und dabei magische Beschwörungen zu murmeln. Das
Getöse ringsum nahm zu. Cranston und Athelstan schoben sich
noch näher heran und drückten dabei ihre Taschen mit den
Händen an sich, denn in der Menge verbargen sich
Beutelschneider und Taschendiebe wie Mäuse und Ratten in einem
Heuschober. Mirabilis stach weiter auf sein Bild ein, fluchte leise
vor sich hin und schaute zur Mauer hinauf, wo die Taube immer noch
saß. Plötzlich aber, wie unter dem Einfluß der
Magie gegen die Zeichnung unter ihm, zuckte der Vogel einmal und
fiel dann tot herunter. Das ehrfürchtige »Ooh« und
»Aah«, das dieses Ereignis begrüßte,
hätte den Neid eines jeden Priesters oder Predigers erregt.
Cranston grinste und nahm Athelstan beim Handgelenk.
    »Warte noch ein
Weilchen«, sagte er.
    Doctor
Mirabilis’ Reputation war durch dieses Wunder deutlich
gehoben, und so begann er nun, flaschenweise seine Tinkturen aus
zermahlenen Diamanten, der Haut von mitternächtlich gefangenen
Molchen, Fledermausflügeln, Majoran, Fenchel und Ysop zu
verkaufen.
    »Sichere
Heilung«, rief er, »für alle Arten von Fieber,
Schmerz und Zipperlein, an denen ihr leiden
mögt!«
    Für eine Weile
war das Geschäft lebhaft; dann zog die Menge weiter zu einem
alten Mann, der auf die unglaublichste Weise umhersprang und
tanzte. Cranston gab Athelstan die Zügel seines Pferdes und
begab sich zu dem >Doctor<. »Hochverehrter Doctor
Mirabilis«, begann er, »es tut gut, Euch einmal
wiederzusehen.«
    Der Mann blickte auf;
seine Augen waren milchig blau wie die einer Katze. Er musterte
Cranston und schaute dann an ihm vorbei zu Athelstan.
    »Kenne ich
Euch?« fragte er. »Wünscht Ihr meine Arznei zu
kaufen?«
    »Samuel
Parrot«, versetzte Cranston, »von dir würde ich
nicht einmal im Frühling grünes Gras
kaufen.«
    Der Blick des Burschen
ging rasch nach links und rechts. »Wer seid Ihr?«
fragte er leise.
    »Gewiß
hast du mich doch nicht vergessen, Mirabilis?« antwortete
Cranston ebenso gedämpft. »Eine gewisse Verhandlung vor
den Richtern des Rates über eine Medizin, die angeblich heilen
sollte; statt dessen waren danach Männer und Frauen wochenlang
schwer krank ...«
    Der berühmte
Doctor Mirabilis kam näher.
    »Natürlich!« Sein
Gesicht erstrahlte in einem Grinsen, das Zahnlücken
offenbarte. »Sir John Cranston, der Coroner.« Es war
ein scheußlich unaufrichtiges Grinsen. »Kann ich etwas
für Euch tun?« »Hier nicht«, sagte Cranston.
»Aber in der Piper Street, im Nachtschattenhaus. Du kannst
uns hinführen.«
    Der Wundermedikus
nickte; er wickelte Tinkturen und Elixiere in seine Leinwand und
führte dann Cranston und Athelstan von Whitefriars aus durch
ein Gewirr von Straßen, die so schmal waren, daß die
beiden ihre Pferde weiter am Zügel führen
mußten.
    »Wie macht er
das?« flüsterte Athelstan.
    »Was?«
    »Das mit dem
Vogel. Mit der Taube.«
    Cranston lachte.
Doctor Mirabilis ging vor ihnen her. »Wenn du auf seinen
kleinen Dachboden hinaufklettern würdest«, sagte er,
»fändest du dort oben Körbe mit zahmen Tauben - du
weißt schon, die Sorte, die Botschaften überbringen
kann. Bei Gelegenheit verabreicht unser Freund einer von ihnen ein
bißchen Nox vomica, ein langsam wirkendes Gift. Dann
läßt er die Taube hinaus, und sie läßt sich
irgendwo in der Nähe nieder. Durch die Wirkung des Giftes wird
der arme Vogel regungslos sitzen bleiben, und nach einer Weile
fällt er tot herunter. Da hast du seine Magie!« Er
lachte wieder. »Manchmal klappt das natürlich nicht.
Unser Doctor Mirabilis ist stets bereit, das Hasenpanier zu
ergreifen, flink wie ein Reh, schnell wie ein Vogel.« Der
gelehrte Medikus schien zu ahnen, daß von ihm die Rede war;
er drehte sich um, entblößte grinsend sein schlechtes
Gebiß und winkte ihnen, ihm ein wenig schneller zu
folgen. 
    Athelstan wußte
jetzt, warum Cranston Mirabilis als Führer ausgesucht hatte.
Southwark war schlimm, aber diese Gegend um Whitefriars war
schlimmer. Obwohl

Weitere Kostenlose Bücher